Geburtsjahr 2010: Damit beginnt die neue „Generation Alpha“. Wie ticken diese Kinder und Jugendlichen? Wie wirken sich ihre Vorstellungen und Haltungen auf Gemeinden und die missionarische Jugendarbeit aus? Chris Pahl, Projektleiter des Jugendevents Christival, hat dazu u. a. die SINUS-Jugendstudie 2024 gelesen und Jugendmitarbeiter befragt. Anhand der beiden fiktiven Jugendlichen Emma und Ben stellt er Thesen für die Gemeindearbeit und die älteren Generationen auf.
Emma ist 14 Jahre alt, ihr Bruder Ben ist 17. Beide kämpfen sich durch die Pubertät. Selbstfindung, Pickel, Stress mit den Eltern, verliebt sein: Diese Themen hatte und hat jede Generation in diesem Alter. Beim Betrachten der Generationen ist es wichtig zu unterscheiden, was ist entwicklungsbiologisch normal und was sind Reaktionen einer Generation auf ihr Umfeld. Und natürlich hat jeder Teenager auch noch seine eigene Persönlichkeit. Dennoch wachsen Emma und Ben in einem anderen Umfeld auf als die Generationen vor ihnen. Ein paar Beispiele:
- Ben war 13 Jahre alt, als er in der Corona-Pandemie immer wieder wochenlang keine Freunde treffen durfte. In einer Entwicklungsphase, in der man sich von den Eltern löst, war er zu Hause „eingesperrt“ und verbrachte sehr viel Zeit in digitalen Welten.
- Emma kennt ein Leben ohne Smartphone und Tablet nicht mehr. Ihre Online-Freunde sind genauso real wie ihre Schulfreunde.
- Emma und Ben werden beide von ihren Eltern stark gefördert. Materiell sind sie die bestversorgte Generation.
- Flüchtlingskrise, Klimakrise, Corona, Krieg in der Ukraine und Israel: Das Leben von Ben und Emma ist im Dauer-Krisenmodus.
Diese ganzen Umstände führen unter anderem zu folgenden Reaktionen in der neuen „Generation Alpha“ (Jahrgang ab 2010):
1. Digitale Verwahrlosung und ein Gegentrend
Ben hat eine Bildschirmzeit von fast vier Stunden am Tag. Damit liegt er noch im Durchschnitt. Dies führt zu Reizüberflutung, Suchtverhalten, Stress, Vereinsamung etc. Hier zeigt sich in den ersten Beobachtungen zur Generation Alpha ein Gegentrend: Emma reduziert ihre Handyzeit selbstständig und geht gegen die „Zeitverschwendung“ vor. Offline-Zeit bekommt wieder mehr Wert.
- Chance für Christen: Unsere Offline-Angebote mit „anfassbarer“ Gemeinschaft und spürbaren Events werden wieder spannender. Gute christliche mediale Angebote sind wichtige Glaubenszugänge.
2. Große Sehnsucht nach Geborgenheit
Ben geht seit ein paar Monaten wegen seiner Angstzustände zum Psychologen. Damit liegt er im Trend. Ein Drittel der Jugendlichen fühlt sich psychisch belastet. Das passt auch zu den Beobachtungen von Jugendmitarbeitern oder Seelsorgern im christlichen Bereich. Die aktuelle SINUS-Studie fasst zusammen: „Sicherheit, Halt und Geborgenheit sind für die meisten auch 2024 wichtiger als Aus- und Umbrüche – und sind angesichts der beständigen Krisenmeldungen sogar noch wichtiger geworden.“
- Chance für Christen: Der Glaube an Jesus und Gemeinschaft mit Christen bieten genau diese Geborgenheit. Unsere Gemeinden und Jugendgruppen müssen Heilungs- und Heimatorte sein.
3. Mitreden, aber nur bedingt mitmachen
Emma hat immer wieder das Gefühl, dass sie in dieser Welt eh nix verändern kann und dass sich niemand für ihre Meinung interessiert. Die SINUS-Studie schreibt: „Viele haben allerdings das Gefühl, dass man ihnen oft pauschal Kompetenz und Erfahrung abspricht. Es frustriert sie, wenn geäußerte Ideen und Anliegen von Erwachsenenseite entweder ignoriert oder diskreditiert werden.“
Bei Ben und Emma merkt man die unterschiedlichen Ansätze. Während Ben auch gerne gehört werden will, hat er aber keinen Bock, sich einzubringen. Emma dagegen möchte sich engagieren, um Ungleichheiten zu verändern (siehe Punkt 5). Allerdings macht sie das viel lieber punktuell als langfristig und am liebsten mit einer hohen positiven Gemeinschaftserfahrung.
- Chance für Christen: Die Botschaft eines Gottes, der sich für junge Menschen interessiert, ist hier aktueller denn je. Wenn Jugendarbeit Räume auf Augenhöhe schafft und Jugendliche wirklich einbindet, kann sie viel Erfolg in dieser Generation haben.
4. Realistisch, anpassungsfähig und pragmatisch
Ben und Emma geht es laut ihrer Selbstaussage nicht schlecht. Sie fühlen sich materiell gut versorgt, sind aber nicht enthusiastisch. Die Krisen haben dazu geführt, dass sie nicht zu lange in die Zukunft planen und immer wieder pragmatisch neu entscheiden. Somit ändern sie schneller ihre Meinung und halten sich gerne aus Themen raus. Fake News (Falschmeldungen) etwa erkennen sie laut eigener Aussage, aber nachrecherchieren oder Fake News melden tun sie eher nicht. Sie haben gelernt, das Wesentliche für sich zu filtern.
- Chance für Christen: Der Mehrwert des Glaubens und christlicher Gemeinde muss immer wieder erlebt und gelehrt werden. Wenn auf Jugendliche nicht eingegangen wird, sind sie ganz schnell weg.
5. Hochsensibel bei Ausgrenzung & Gerechtigkeit
Ein Großteil der Jugendlichen beschreibt, dass er selbst schon Ausgrenzung erlebt hat. Emma, weil sie Christin ist, Ben wegen seines Aussehens. Die globalen Krisen schärfen die Sensibilität auch für die weltweite Ungerechtigkeit.
- Chance für Christen: Das Thema Gerechtigkeit ist zutiefst biblisch begründbar. Jugendliche sind für Engagement in Projekten gegen Ungerechtigkeit leichter zu gewinnen. Hier kann auch die Weltmission neu ansetzen.
Ansätze für die christliche Jugendarbeit
Ich habe verschiedene Jugendmitarbeiter gefragt, welche Modelle der Jugendarbeit sie gerade erfolgreich und wichtig finden. Hier einige Antworten:
„Wir müssen Zeit haben, um mit Jugendlichen Bibel zu lesen. Das geht in der (Klein-)Gruppe scheinbar für viele leichter als allein.“ — Björn Knublauch, „Netzwerk-M“ und 1. Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Jugendevangelisation (AGJE)
„Wenn Jugendliche ihren Glauben teilen, ist das oft wirkungsvoller als die Verkündigung durch Profis. Das zu stärken ist ein großer Bedarf in der Jugendarbeit, zum Beispiel durch Schülerbibelkreise.“ — Mirjam Greenaway, Schüler-SMD
„Ich glaube, dass nach wie vor Freizeiten mit Zeit und Raum für Persönliches, Ausprobieren und Gemeinschaft sehr wichtig sind. Hier kann man sehr gut partizipativ arbeiten und ist mal aus dem Gewohnten raus.“ — Sabine Schmalzhaf-Sievers, Landesschülerpfarrerin Württemberg
„Wir arbeiten mit unseren Jugendlichen mit den Materialien truestory (dialogisches Bibellesen und Videos mit Erfahrungsberichten), YouVersion (Bibel-App mit Leseplänen) und Bibleproject (u. a. Erklärvideos und Kleingruppenmaterial). Wenn die Jugendlichen anfangen, zu sehen und zu verstehen, dann bekommen sie Hunger auf mehr.“ — Kira Geiss, Jugendreferentin beim Ev. Gnadauer Gemeinschaftsverband und Miss Germany 2023
Neben der klassischen Jugendarbeit nimmt der Einfluss der christlichen Influencer immer mehr zu. Kira Geiss sagt: „Influencer sind neben der Familie und Schule eine Art drittes Erziehungsglied geworden. Sie bekommen das Recht, in mein Leben zu sprechen.“ Doch sie schränkt ein: „Für Jugendliche, die fest in einer Gemeinde oder christlichen Gruppe verankert sind, bleiben Pastoren, Freunde und Jugendleitende die Autoritäten.“ Dennoch ist die Prägekraft der „Christfluencer“ groß. Diese zeigen ihr Glaubensleben sehr authentisch, sind aber oft nicht theologisch qualifiziert oder einseitig. Es ist Aufgabe von Jugendarbeit und Gemeinde, die Meinungen und Erfahrungen der Influencer zu reflektieren und einzuordnen.
Was können wir „Alten“ tun?
Aufgrund dieser Beobachtungen habe ich fünf Wünsche an uns, die wir nicht zu dieser Generation gehören, wie wir Ben und Emma helfen können:
• Ehrt die Jungen!
Wir kennen aus der Bibel das Gebot Du sollst Vater und Mutter ehren (2. Mose 20,12), aber zum Beispiel Psalm 127,3 erinnert uns daran, dass Kinder Gottes Geschenke sind. Unsere erste Aufgabe ist es nicht, die Jungen zu kritisieren, sondern sie verstehen zu wollen, sie zu ermutigen und ihre Stärken zu sehen.
• Gebt ihnen Raum!
Jugendliche wollen mehr denn je gehört werden. Sie brauchen Raum! Ganz praktisch einen eigenen Raum in der Gemeinde, aber auch Schutzräume, in denen sie Fragen und Zweifel äußern und ihre Jugendkultur leben können.
• Investiert in die Jugendarbeit!
In immer mehr Gemeinden gibt es kaum noch Kinderund Jugendarbeit. Das bedeutet langfristig, dass diese Gemeinden sterben werden. Das Jugendalter bleibt die Zeit, in der sich die meisten Menschen für ein Leben mit Jesus entscheiden. Geld, Mitarbeit, Gebet: Es lohnt sich, jetzt zu investieren. Hier werden wir an immer mehr Orten Gemeinden und Jugendarbeiten zusammenlegen müssen, damit eine attraktive Gruppe entsteht.
• Lernt von ihnen!
Die Generation hat tolle Begabungen. Den jungen Menschen ist Gerechtigkeit wichtig. Sie sind digitale Experten, anpassungsfähig und pragmatisch. Und trotz aller Krisen haben Jugendliche Hoffnung für die Welt. Ich will bei all den Themen von ihnen lernen und ihnen zuhören.
Seid authentische Vorbilder!
Eine Studie des christlichen Meinungsforschungsinstituts Barna hat deutlich aufgezeigt, dass junge Menschen Jesus sehr positiv bewerten, Christen allerdings nicht. 49 % finden Jesus liebevoll, Christen bekommen nur 31 Prozentpunkte. Dafür haben wir bei „heuchlerisch“ und „verurteilend“ deutlich höhere Werte als Jesus.
Zusammengefasst: Diese Generation werden wir nicht verändern. Wir selbst und unsere Gemeinden müssen uns verändern. Die Botschaft von Jesu rettender Liebe muss bleiben – und ist wichtiger denn je.
(Der Autor, Chris Pahl (Leipzig), ist Projektleiter des Jugendevents „Christival28“, Jugendreferent, Buchautor und unterstützt derzeit die Jugendevangelisation truestory von proChrist.)