Bestellhotline: 0800 2383680 (kostenlos innerhalb D)
Literatur für ein Leben mit Zukunft
Kauf auf Rechnung möglich | versandkostenfrei ab 50 € (innerhalb D)

IDEA-Interview: „Wir müssen das Asylsystem von Grund auf reformieren“

Ruud Koopmans: Wir müssen das Asylsystem von Grund auf neu denken. (Foto: S. Hofschlaeger/ pixelio.de)

Europa braucht eine bessere Asylpolitik. Das fordert der Professor für Soziologie und Migrationsforschung Ruud Koopmans. Was läuft derzeit falsch? Und wie könnte es besser gehen? Darüber sprach er mit IDEA-Reporter Karsten Huhn.

IDEA: Herr Professor Koopmans, derzeit kommen täglich 1.000 Zuwanderer nach Deutschland. Viele Unterkünfte sind überfüllt, die Proteste nehmen zu. Kann das gutgehen?

Koopmans: Eigentlich nicht. Deutschland hat fast eine Million Syrer und Afghanen aufgenommen und im letzten Jahr etwa eine Million Ukrainer. Dazu kommen noch zahlreiche Flüchtlinge aus anderen Ländern. Das führt zu einer Überbelastung der Kommunen und wird ähnlich negative Konsequenzen haben wie schon bei der Flüchtlingskrise 2015.

IDEA: An welche Konsequenzen denken Sie?

Koopmans: An Konflikte zwischen den Bewohnern in überfüllten Flüchtlingsheimen, aber auch an Konflikte zwischen Einheimischen und Bewohnern. Im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge werden sich wieder die Asylverfahren stauen, und der Konkurrenzkampf um Wohnungen, Ärzte, Kita- und Schulplätze wird zunehmen. Da unter den nicht ukrainischen Flüchtlingen viele junge Männer sind, in deren Herkunftsländern Gewalt zur Tagesordnung gehört, rechne ich zudem mit einem Anstieg von Kriminalität, besonders bei schwerer Gewaltkriminalität und Sexualverbrechen. Das wird die Rechtspopulisten befeuern, die die Situation nutzen, um mehr Wähler zu mobilisieren. Das ist ein explosives Gemisch. Es rächt sich jetzt, dass die Politik seit 2015 ihre Asylpolitik nicht reformiert hat. 

IDEA: Die Bundesregierung war die letzten Jahre im Dauer-Krisenmodus und hat versucht, auf das jeweils drängendste Problem zu reagieren – mal war es die Wirtschaftskrise, dann die Eurokrise, die Flüchtlingskrise, dann kam Corona und Russlands Krieg gegen die Ukraine. Da blieb für grundlegende Reformen keine Zeit.

Koopmans: Das sehe ich anders. Durch die Schließung der Balkan-Route und das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei hatten wir in den letzten Jahren eine deutliche Entspannung. Die Flüchtlingszahlen nahmen stark ab. Die Bundesregierung hätte die Zeit für Reformen gehabt.

IDEA: Welche Reformen empfehlen Sie?

Koopmans: Wir müssen das Asylsystem von Grund auf neu denken. Das jetzige System bevorzugt junge, gesunde und relativ wohlhabende Menschen, die sich nach Europa auf den Weg machen. Denn oft sind mehrere Tausend Euro notwendig, um Menschenschmuggler zu bezahlen. Zudem lässt unser Asylsystem fast alle Menschen dauerhaft bleiben, die es bis an Europas Grenzen geschafft haben und dort einen Asylantrag stellen. Zwar werden europaweit etwa 45 Prozent der Anträge abgelehnt, wir schaffen es aber nicht, die Abgelehnten auch zurückzuführen. Oft gibt es eine Duldung, auch wenn die Schutzbedürftigkeit fehlt. Wer es einmal nach Europa geschafft hat, der bleibt. Das macht es für Migranten, die nicht von Verfolgung bedroht sind, extrem attraktiv, nach Europa zu kommen.

IDEA: Was Sie sagen, ist Wasser auf die Mühlen der AfD.

Koopmans: Ich habe Fakten präsentiert. Wem diese Fakten nicht gefallen, der muss etwas an der Situation ändern. Wenn die AfD von der jetzigen Situation profitiert, ist es für die anderen Parteien umso mehr ein Grund, ihre Asylpolitik zu ändern.

IDEA: Weltweit gibt es derzeit fast 90 Mio. Flüchtlinge. Für viele von ihnen ist Deutschland das verheißene Land.

Koopmans: Der Migrationsdruck wird hoch bleiben. Das ist absehbar, denn Europa grenzt an die Krisenregionen dieser Welt: an die Ukraine, an den Nahen Osten und an Afrika, den Kontinent mit dem höchsten Bevölkerungswachstum. Es ist aber nicht so, dass alle Flüchtlinge nach Westeuropa wollen: Viele bleiben lieber in ihrer Region in der Hoffnung, dass sie bald in ihre Heimatländer zurückkönnen. Das gilt etwa für viele Ukrainer, die sich in Polen niedergelassen haben, und für Syrer, die in der Türkei geblieben sind.

IDEA: Anders als bei der Aufnahme syrischer und afghanischer Flüchtlinge 2015 gab es 2022 gegen die Aufnahme von Ukrainern kaum Proteste. Was ist diesmal anders?

Koopmans: Die Ukraine ist Teil Europas, und die Menschen in Polen, Tschechien und Deutschland verstehen, dass sie als Nachbarn der Ukraine die ersten sind, um den Ukrainern zu helfen. Wohin sonst sollten die Ukrainer flüchten? Im Rücken haben sie die Russen, die sie bombardieren, und der einzige Ausweg ist tatsächlich die Europäische Union. Polen stand Flüchtlingen bisher sehr kritisch gegenüber. Jetzt zeigt es aber ein hohes Maß an Aufnahmebereitschaft für die Ukrainer.

IDEA: Die Ukrainer sind weiß, christlich und europäisch – ist es rassistisch, dass Europa für sie eine größere Aufnahmebereitschaft zeigt als für Syrer und Afghanen?

Koopmans: Nein, Europa ist jetzt in der gleichen Situation wie die Türkei, Jordanien und Libanon bei der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen. Es ist kein Rassismus von diesen Ländern, dass sie Millionen von Syrern ins Land ließen, aber jetzt keine Ukrainer aufnehmen. Genauso wenig ist es rassistisch, dass wir jetzt den Ukrainern helfen. Zum anderen: In den 1990er Jahren hat Europa im Jugoslawien-Krieg Hunderttausende bosnischer und kosovarischer Flüchtlinge aufgenommen, die in der Mehrheit Muslime sind. Die Religion spielte bei der Aufnahme keine Rolle. Es kommt eben immer auf die Fluchtgründe an: Wer aus dem Senegal, Nigeria oder Marokko kommt, wo es keinen Krieg oder andere Verfolgungsgründe gibt, kann nicht mit einer großen Aufnahmebereitschaft rechnen. Das ist aber keine Frage von Hautfarbe oder Religion.

IDEA: Europa leidet seit Jahrzehnten unter Geburtenmangel. Lässt sich der daraus resultierende Fachkräftemangel durch Zuwanderung beheben und ein neues Wirtschaftswunder herbeiführen?

Koopmans: Für den Arbeitsmarkt braucht Europa Zuwanderung. Allerdings hilft uns nicht jede Art von Zuwanderung. Wir brauchen Zuwanderer, die arbeiten und mehr in das Sozialsystem einzahlen, als sie daraus erhalten. Dafür braucht es aber nicht möglichst viele Zuwanderer, sondern vor allem gut qualifizierte. Andernfalls löst Zuwanderung keine Probleme, sondern verschärft sie nur.

IDEA: Die Ukrainer sind mehrheitlich gut qualifiziert. Wenn in ihrem Land Frieden einzieht, werden jedoch vermutlich die meisten in ihre Heimat zurückkehren.

Koopmans: Die Wanderungsbewegungen in der Vergangenheit zeigen: Ein Teil wird zurückkehren, ein Teil wird bleiben und ein Teil wird pendeln. Durch den Krieg wurde die ukrainische Nationalidentität sehr gestärkt, und viele werden ihr Land wiederaufbauen wollen. Andererseits wird sich ein Teil der Ukrainer in Deutschland verlieben, gute Arbeit finden, und die Kinder finden in der Schule gute Freunde. Dadurch entsteht Druck, hier zu bleiben. Und für das Pendeln spricht: Die Entfernung zwischen Deutschland und der Ukraine ist nicht sehr groß. Für Deutschland wäre das natürlich gut, wenn viele Ukrainer bleiben, denn anders als bei anderen Flüchtlingsgruppen bringen die Ukrainer genau das mit, was auf dem Arbeitsmarkt gebraucht wird: hohe Bildungsabschlüsse und eine hohe Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt.

IDEA: Die Auswirkungen der Zuwanderung seit 2015 auf den Arbeitsmarkt wird von Experten sehr unterschiedlich bewertet: Die einen sagen, die Integration sei ein Erfolg, andere ziehen eine negative Zwischenbilanz. Was stimmt denn nun?

Koopmans: Leider Letzteres. Die Überzeugung, dass die Integration von Flüchtlingen insgesamt gelungen sei, beruht auf fragwürdigen Projektionen und geschönten Zahlen. Dann werden zum Beispiel Minijobs und Teilzeitjobs in die Erfolgsbilanz summiert, und es wird nicht berücksichtigt, dass nicht wenige Flüchtlinge, die arbeiten, trotzdem noch von Sozialleistungen abhängig sind, weil sie zu wenig Stunden arbeiten oder zu wenig verdienen. Von den syrischen Flüchtlingen ist derzeit etwa ein Drittel in der Lage, ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die große Mehrheit bleibt von staatlichen Leistungen abhängig. Allerdings muss man dazu sagen: Mehreinnahmen für den Staat sind auch nicht Ziel der Flüchtlingspolitik. Deren Ziel ist es, Menschen in Not zu helfen. Was mich jedoch stört: wenn man den Wählern vorgaukelt, dass die Flüchtlingsaufnahme ein neues Wirtschaftswunder produzieren könne. Da wurden Versprechen gemacht, die eigentlich nur enttäuscht werden können.

IDEA: Noch heikler als die Arbeitsmarktdaten ist die Diskussion um das Thema Kriminalität und Flüchtlinge. Sie haben zahlreiche Statistiken ausgewertet. Was war Ihre wichtigste Erkenntnis?

Koopmans: Ich wollte den Zusammenhang zwischen dem Schutzstatus eines Flüchtlings und der Kriminalitätsrate zeigen. Meine Erkenntnis: Je höher die Anerkennungsrate einer bestimmten Nationalität ist, desto geringer die Kriminalitätsrate. Von den Syrern werden zum Beispiel fast 100 Prozent als Flüchtlinge anerkannt, und ihre Kriminalitätsrate ist deutlich geringer als die anderer Flüchtlingsgruppen. Ganz anders bei den Marokkanern: Nur wenige von ihnen werden als Flüchtlinge anerkannt, und ihre Kriminalitätsrate ist sehr hoch.

IDEA: Wer kein Asyl bekommt, wird eher kriminell?

Koopmans: Viele Asylverfahren dauern sehr lange, sie ziehen sich oft über mehrere Jahre. Nach einer Ablehnung gehen etwa zwei Drittel in Berufung, danach folgt mitunter noch eine weitere Berufung. Viele dieser Antragsteller suchen auch keinen Schutz vor Verfolgung in Europa, sondern eine Einkommensquelle, und nicht unbedingt eine legale. Diese Menschen verursachen oft Probleme.

IDEA: 2021 wurden 127.489 Flüchtlinge als Tatverdächtige einer Straftat ermittelt – ist das viel oder wenig?

Koopmans: Zunächst: Ausländerrechtliche Verstöße wie illegale Einreise oder Aufenthalt oder die Aufnahme von Arbeit ohne Arbeitserlaubnis sind in dieser Zahl nicht enthalten. Flüchtlinge machen 2,3 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, sie sind aber in 7,1 Prozent aller Straftaten tatverdächtig. Sie sind also dreimal so häufig einer Straftat verdächtig. Noch deutlich negativer fallen die Zahlen aus, wenn wir nicht auf einfache Vergehen wie Diebstahl, sondern auf schwere Gewalttaten wie Mord, Totschlag oder Vergewaltigung schauen. In diesen Fällen liegt der Anteil von Flüchtlingen bei über 14 Prozent. Zum Teil hängt das mit der Zusammensetzung von Flüchtlingen zusammen: Viele sind junge Männer, und diese begehen viel eher Gewalt- und Sexualstraftaten als andere Bevölkerungsschichten.

IDEA: In einer Kommune soll eine neue Flüchtlingsunterkunft eingerichtet werden. Ein Teil der Bevölkerung ist erbost. Was raten Sie dem Bürgermeister?

Koopmans: Der Bürgermeister ist in einer Zwangslage. Die Flüchtlinge werden ihm zugewiesen, und er muss sich um ihre Unterbringung kümmern. Ihm bleibt nichts anderes, als das Beste daraus zu machen. Mein Vorschlag lautet: Wir brauchen eine andere Verteilungspolitik.

IDEA: Sie kritisieren den „Königsteiner Schlüssel“. Dabei sorgt dieser für eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen auf die Bundesländer und Kreise – unter Berücksichtigung von Einwohnerzahl und Steueraufkommen.

Koopmans: Das ist aber eine rein administrative Gerechtigkeit. Aus der Integrationsforschung wissen wir, dass das keine schlaue Idee ist, weil es die Situation vor Ort nicht berücksichtigt. Man sollte Regionen, die bisher wenig Erfahrung mit Zuwanderung haben, nicht genauso behandeln wie Städte, in denen der Migrationsanteil bereits hoch ist. Besonders in der Anfangsphase, wenn die Fremdheitsgefühle auf beiden Seiten am stärksten sind, führt Zuwanderung zu Konflikten. Und für Zuwanderer ist es einfacher, sich zu integrieren, wenn sie vor Ort bereits eine ethnische Gemeinschaft finden, in der sie Rückhalt finden. Um Konflikte zu verringern, müsste man neben der finanziellen Tragkraft von Kommunen auch ihre Erfahrung mit Zuwanderung berücksichtigen. Und wenn man Flüchtlinge in Kleinstädten und ländlichen Regionen ansiedelt, sollten dies vor allem Familien sein und keine alleinstehenden jungen Männer. Die Erfahrung zeigt: Gerade auf dem Land, wo es für Asylbewerber nichts zu tun gibt, langweilen sie sich, und das führt zu Problemen.

IDEA: Der Juraprofessor Daniel Thym bezeichnet das Asylrecht als „Dickicht“: Wenn man es verändern will, wird es nur noch komplizierter.

Koopmans: Ich hoffe, mein eigener Vorschlag ist von anderer Natur. Mir geht es nicht darum, Asylverfahren zu beschleunigen oder die Grenzkontrollen zu verbessern – mit mehr Sachbearbeitern, Grenzbeamten oder mehr Zäunen werden wir das Asylproblem nicht lösen können. Wir müssen das Asylsystem von Grund auf reformieren: Wir sollten die Höhe von Flüchtlingskontingenten festlegen und die Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingen direkt vor Ort in den Krisenregionen prüfen. Für Europa könnte das ein Kontingent von etwa 450.000 Flüchtlingen pro Jahr sein, davon etwa 150.000 für Deutschland.

IDEA: Findet sich für diesen Vorschlag im chronisch zerstrittenen Europa eine Mehrheit?

Koopmans: Ja, wenn Europa zugleich irreguläre Zuwanderung zurückdrängt. Die Aufnahme von Flüchtlingskontingenten darf nicht dazu führen, dass Europa noch mehr Flüchtlinge aufnimmt als bisher. Der Vorschlag ist also eine realistische Paketlösung, die sowohl von linker als auch konservativer Seite Kompromisse erfordert: Die Konservativen müssen bereit sein, weiterhin Flüchtlinge aufzunehmen, und die Linken müssten wirksame Maßnahmen zur Begrenzung des Flüchtlingszustroms akzeptieren.

IDEA: Sie forschen nur drei Kilometer Luftlinie vom Bundeskanzleramt entfernt. Werden Ihre Vorschläge dort gehört?

Koopmans: In der Politik mangelt es bisher an der Bereitschaft, das Problem der Asylpolitik wirklich zu lösen – unabhängig davon, wer regiert. Für Politiker wäre es auch fast schade, wenn das Thema gelöst wäre. Es ist so moralisch und emotional aufgeladen und für alle Beteiligten ein hervorragendes Wahlkampfthema. Die linke Seite des politischen Spektrums kann den Rechten Unmenschlichkeit vorwerfen und die 24.000 Toten im Mittelmeer in die Schuhe schieben. Und die rechte Seite kann die Linke für die zunehmende Kriminalität durch Asylbewerber verantwortlich machen und ihnen ebenfalls die Toten im Mittelmeer vorwerfen – denn es seien ja die Seenotretter, die die gefährliche Überfahrt attraktiv machen. Ich denke, dass Politik nicht nur so zynisch betrachtet werden muss, wie ich es gerade getan habe. Ich hoffe, dass genügend Politiker erkennen, dass es so wie bisher nicht weitergeht. Und dass Politik letztendlich dafür da ist, Probleme zu lösen.

IDEA: Vielen Dank für das Gespräch!

Der Niederländer Ruud Koopmans (62) ist Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.


Kommentare

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Die Datenschutzhinweise habe ich zur Kenntnis genommen.