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Eine besondere Wohnung

Von: ideauser Datum Beitrag: 18.10.2024 Kommentare: Keine Kommentare Tags: , , , ,

Bundesweit arbeiten nach Schätzungen von Hilfsorganisationen 90 Prozent der Prostituierten nicht freiwillig im Sexgewerbe. Ein Ausstieg fällt schwer. Die christliche Sozialarbeiterin Erika Herdt hat mit ihrem Team eine Aussteigerwohnung für ehemalige Prostituierte eröffnet. Von IDEA-Redakteurin Erika Weiss

Sie könnte in Deutschland kellnern oder babysitten, hatte ihr ein entfernter Verwandter versprochen. Das Jobangebot und die Aussicht auf ein gutes Gehalt lockten Nang (Name geändert). Die 42-jährige Thailänderin machte sich im Frühjahr 2024 auf die Reise in eine vermeintlich bessere Zukunft. In Frankfurt am Main angekommen, nahm der Verwandte ihr den Reisepass weg. Er brachte sie in eine Wohnung, wo sie jeden Tag bis zu 15 Männer sexuell befriedigen musste.

Eines Tages hörten Nachbarn die Schmerzensschreie von Nang. Sie riefen die Polizei – und alles flog auf. Nang war die erste Bewohnerin der im April eröffneten Aussteigerwohnung für ehemalige Prostituierte in der Nähe von Bonn. „Ihren Anblick werde ich nie vergessen“, erinnert sich Sozialarbeiterin Erika Herdt. „Nang war in eine Decke eingewickelt und sah total traumatisiert und sehr ängstlich aus.“ Gemeinsam mit ihrem Team hat Herdt das „Home of Hope“ für ehemalige Prostituierte gegründet. Bis zu drei Frauen können dort wohnen. Die Räume in der spendenfinanzierten 5-Zimmer-Wohnung sind lichtdurchflutet und liebevoll eingerichtet. Fast alle Möbel sind weiß. An den Wänden hängen Bibelverse. Tagsüber sind eine Sozialarbeiterin und eine Haushälterin da.

Zuflucht im Haus der Hoffnung

Nang und Herdt kommunizierten damals über den Google-Übersetzer miteinander. Schnell war klar: Nang wollte zurück nach Thailand – so schnell wie möglich. Ein auf Instagram veröffentlichter Spendenaufruf brachte innerhalb von 24 Stunden genug Geld für ein Flugticket ein. Nang blieb noch vier Tage in der Aussteigerwohnung. Herdt und weitere Helferinnen kümmerten sich um sie, schenkten ihr eine Bibel auf Thai und nahmen Kontakt zu einer christlichen Organisation in Thailand auf. Auch dort sollte Nang von Christen begleitet werden. Kurz nach ihrer Ankunft in Bangkok sagte die Thailänderin zu den Sozialarbeitern vor Ort: „Ich habe in Deutschland viel Schlimmes erlebt. Ich bin durch die Hölle gegangen. Doch im Home of Hope wusste ich, dass ich sicher war. Sie haben mir von Jesus erzählt und mir geholfen.“

Jesus ist an den dunkelsten Orten

Geschichten wie diese treiben Erika Herdt an, sich für Frauen in der Prostitution einzusetzen. Sie ist überzeugt: „Die Frauen können nur heilen, wenn sie in eine gute Umgebung kommen und Menschen sie begleiten.“ Vor acht Jahren begann die 55-Jährige damit, Frauen im Sexgewerbe zu helfen. Je mehr sie in die Welt des Nachtlebens eintauchte, desto deutlicher wurde ihr das Elend: der psychische Druck von den Zuhältern, die endlosen Arbeitszeiten, die überteuerten Mieten von schäbigen Einzelzimmern. „Kein Wunder, dass diese Frauen ein Trauma haben“, sagt Herdt. An ihren ersten Bordellbesuch erinnert sie sich noch gut: Sie durfte in das Zimmer einer Lateinamerikanerin. Auf dem Nachttisch stand ein Holzkreuz, daneben lag ein großer Stapel Kondome. Der Anblick verstörte sie. Aber dann kam ihr der Gedanke: „Wohin  würde Jesus gehen, wenn er jetzt hier wäre?“ Sie ist sich sicher: „Er würde zu den dunkelsten Orten gehen. In Bordelle. Dafür wäre er sich nicht zu schade.“

Kein Einsatz ohne Gebet

2019 gründete Herdt den Verein „Leben in Freiheit“. Jeden Freitagabend fahren mindestens vier der 25 Teammitglieder zu einem Bordell im Rhein-Sieg-Kreis. Zwei gehen rein, zwei bleiben im Auto sitzen und beten. „Wir machen keinen Einsatz, ohne dass im Hintergrund für uns gebetet wird“, sagt Herdt. Als vor einigen Monaten in der Urlaubszeit nur zwei Mitarbeiterinnen Zeit hatten, entschieden sie sich gegen einen Einsatz. Das Gebet gibt ihnen die Sicherheit, dass Gott bei ihnen ist.

Jesus sprengt Ketten

Wenn das Team in ein Bordell gehen will, meldet es sich bei dem Betreiber an. Auf diese Weise investiert es in die Beziehung zu ihm und arbeitet daran, auch beim nächsten Besuch wieder reinzudürfen. Der Zuhälter weiß, dass die Streetworkerinnen den Prostituierten Brezeln, Brötchen und Getränke bringen. Er unterstützt das sogar, denn manchmal essen die Sexarbeiterinnen den ganzen Tag nichts, berichtet Herdt. Stattdessen dröhnen sie sich mit Drogen zu, um alles ertragen zu können.

Die Frauen sitzen meist auf Barhockern vor ihren Zimmern, wenn die Sozialarbeiterinnen kommen. Sie fragen, ob sie für die Frauen beten dürfen. In der Regel lehnt das keine ab. Viele kommen aus christlich geprägten Ländern wie Bulgarien und Rumänien oder aus Lateinamerika. Herdt erinnert sich an einen Einsatz, bei dem sich eine Frau Gebet wünschte: „Wir haben unsere Hände auf ihre Schulter gelegt und für sie gebetet. Da merkte ich, wie nach und nach fünf andere Prostituierte dazukamen und sich an mir und meiner Kollegin festgehalten haben. Jesus ist gekommen, um Ketten zu sprengen.“

Sorgen an Gott weiterleiten

Die Schicksale der Frauen beschäftigen Herdt oft tagelang. „Manchmal sind die Geschichten so schlimm, dass ich zusammenbrechen könnte. Als Christen haben wir das Privileg, dass wir unsere Sorgen direkt an Gott weiterleiten können“, sagt sie. Ihrer Erfahrung nach liegt der Anfang des Leidensweges bei den meisten Frauen in der Kindheit. Viele wurden als Kind sexuell und psychisch missbraucht. Herdt nimmt wahr, dass die meisten Frauen diese Arbeit nicht freiwillig machen. Aber sie stehen unter einem großen Druck durch den Zuhälter. Außerdem versorgen sie ihre Familien in ihrer Heimat finanziell und sehen keine Alternative.

Die Frauen brauchen Begleitung

Konnten die Streetworkerinnen Vertrauen zu einer Frau aufbauen, erzählen sie ihr von der Aussteigerwohnung. Auf einen winzigen Zettel schreiben sie die Telefonnummer vom „Home of Hope“ und flüstern: „Wenn du uns anrufst, holen wir dich hier raus.“ Dafür hat das Team einen geheimen Notfallplan erstellt. Schon öfter rief eine Frau an. Aber im letzten Moment brach sie ihre Flucht immer ab – zu groß war die Angst. Häufig lassen die Frauen ihre Kinder bei Verwandten oder Großeltern in ihrem Heimatland zurück, erzählt Herdt: „Viele Zuhälter drohen den Frauen, dass sie ihre Kinder umbringen, wenn sie fliehen.“

Seit Juli wohnt Valeria (Name geändert) im „Home of Hope“. Die gebürtige Tschechin war über 20 Jahre unfreiwillig in der Prostitution tätig. Ihre Missbrauchsgeschichte begann in der Kindheit. Ihr Vater drückte sie in der Badewanne oft unter Wasser, wenn Valeria seinen Ansprüchen nicht gerecht wurde. Danach vergewaltigte er sie. Über Verwandte kam sie als junge Frau in die Prostitution. Viele Monate bekam sie im Bordell Besuch von anderen christlichen Sozialarbeiterinnen. Eines Tages war Valeria nicht mehr da. Sie hatte einen Schlaganfall erlitten und lag im Krankenhaus. Die Sozialarbeiterinnen erzählten ihr am Krankenbett von Jesus. Valeria entschied sich, Christ zu werden.

Die Betten sind schon frisch bezogen

Die Sozialarbeiterinnen standen im Kontakt zu Herdt, und Valeria konnte in das „Home of Hope“ ziehen. Hier fühlt sie sich wohl. Durch ihren Schlaganfall hat ihr früherer Zuhälter jegliches Interesse an ihr verloren, weil sie ihm kein Geld mehr einbringt. Valeria hilft im Haushalt, später will sie ein selbstständiges Leben führen. Jeden Tag lesen Herdt und ihr Team mit Valeria in der Bibel. Regelmäßig kommen eine christliche Seelsorgerin und eine Psychotherapeutin zu ihr. „Es ist die Kombination aus Gebet und Traumatherapie, die ihr helfen kann“, sagt Herdt. „Wir bieten Prostituierten mehr an als einen Ausstieg – wir haben eine Botschaft für die Ewigkeit: Wir erzählen ihnen von Jesus. Er will die Frauen befreien und heilen. Egal was sie erlebt haben: Es gibt Hoffnung und einen Neuanfang.“ Zurzeit sind die anderen beiden Zimmer im „Home of Hope“ frei. Doch Herdt ist sich sicher, dass das nicht lange so bleiben wird. Die Betten sind schon frisch bezogen. „Wir sind jederzeit bereit, Frauen aufzunehmen.“

400.000 Prosituierte soll es schätzungsweise in Deutschland geben. Nicht angemeldete Prostituierte werden  in der Statistik nicht erfasst. Die Zahl der gemeldeten Prostituierten in Deutschland steigt. Ende vergangenen Jahres waren bei den Behörden rund 30.600 Prostituierte angemeldet, das waren 8,3 Prozent mehr als im Vorjahr, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.

Der Verein „Leben in Freiheit“ veranstaltet Infoabende über Menschenhandel und Zwangsprostitution und bietet Präventions-Workshops an Schulen an zum Thema „Die Loverboy-Methode“. Ebenso setzen sie sich für das sogenannte „Nordische Modell“ ein: Danach ist der Kauf von sexuellen Dienstleistungen verboten. Bei Verstößen werden nicht die Prostituierten bestraft, sondern die Freier.

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