(“Adventisten heute”-Aktuell, 17.4.2015) Familien mit einem oder zwei Kindern stehen in besonderer Gefahr, ihre Kinder zu selbstverliebten Personen zu erziehen. Ein solcher Narzissmus schade den Kindern und der Gesellschaft, stellen evangelikale Pädagogen und Psychologen fest. Der Begriff Narzissmus stammt aus der griechischen Mythologie: Der Göttersohn Narziss verliebte sich in sein Spiegelbild. Die christlichen Erziehungsfachleute reagierten auf Anfrage der Evangelischen Nachrichtenagentur idea auf eine Studie der Universität Amsterdam, wonach vor allem die Eltern für diese Persönlichkeitsstörung ihrer Kinder verantwortlich sind. Wie die niederländischen Wissenschaftler um Prof. Eddie Brummelman herausfanden, sind immer mehr Kinder in westlichen Ländern krankhaft in sich selbst verliebt, weil ihre Eltern sie für etwas Besseres halten.
“Mein Kind ist besser als andere”
Die Psychologen und Erziehungswissenschaftler befragten zwei Jahre lang alle sechs Monate 565 Kinder zwischen sieben und elf Jahren sowie deren Eltern. Jene Heranwachsenden, deren Eltern angaben, ihr Nachwuchs sei besser als andere Kinder oder verdiene im Leben etwas Außergewöhnliches, hatten später narzisstischere Charaktere: Sie besaßen wenig Einfühlungsvermögen und reagierten überempfindlich auf Kritik. Demnach ist es dem Wohl eines Kindes nicht förderlich, wenn Väter oder Mütter es für “Gottes Geschenk an die Menschheit” halten. “Kinder glauben ihren Eltern, wenn die ihnen sagen, sie seien besser als andere”, wird Co-Autor Brad Bushman von der US-amerikanischen Ohio State University (Columbus) in einer Mitteilung der Universität zitiert. “Für sie selbst und auch für die Gesellschaft kann das nicht gut sein.”
Kindern Grenzen aufzeigen
Das sieht der Vorsitzende der Evangelischen Lehrer- und Erziehergemeinschaft in Württemberg, Paul-Gerhard Roller (Tübingen), ähnlich. Auch die traditionell am Einzelkind orientierte Pädagogik fördere eine Egozentrierung. Roller: “Die zunehmende Zahl an Ein-Kind- und Zwei-Kind-Familien verstärkt die ungesunde Fokussierung auf das einzelne Kind. Wenn alleine das Kind im Mittelpunkt steht und zum Maßstab für Erziehung und Bildung genommen wird, bekommt das ihm und unserer Gesellschaft nicht gut.” Die Folge sei ein übersteigertes Selbstbewusstsein von Kindern gepaart mit Respektlosigkeit gegenüber Älteren. Wer sein Kind gut erziehen wolle, müsse ihm einen Rahmen geben und klare Grenzen aufzeigen. Die Erziehung zur Selbstbeschränkung sei eine Voraussetzung für Freiheit und Glück. Christliche Eltern sind nach Rollers Überzeugung ein Segen. “Wer seine Kinder in der Verantwortung vor Gott erzieht, tut ihnen Gutes. Sie bekommen ein gesundes Selbstwertgefühl und wissen sich von Gott angenommen.” Von der Erziehung in Ehrfurcht vor Gott profitiere die Gesellschaft, weil Gottesliebe und Nächstenliebe im christlichen Glauben zusammengehören.
Eltern projizieren ihre Wünsche auf die Kinder
Der Dozent für Psychologie und Beratung an der Internationalen Hochschule Liebenzell, Prof. Ulrich Giesekus (Freudenstadt/Schwarzwald), sagte idea, die Pädagogik in Deutschland vom Kindergarten bis zum Gymnasium bestätige die Einschätzung der niederländischen Wissenschaftler: “Eltern sehen ihre Kinder immer öfter als ganz besonders begabte und anderen Kindern überlegene Geschöpfe an. Damit vermitteln sie dem Kind ein narzisstisches Überlegenheitsgefühl. Das ist nicht gesund.” Auch Giesekus ist überzeugt, dass diese Haltung mit der relativ niedrigen Kinderzahl zu tun hat. Wenn Eltern nur ein oder zwei Kinder hätten, projizierten sie alles in sie hinein, was sie gerne bei sich sehen würden. Mitverantwortlich für den zunehmenden Narzissmus sei auch die gesellschaftliche Entwicklung zu mehr Individualität und Autonomie. Sie führe dazu, “dass Eltern sich selbst und ihre Kinder nicht mehr auf eine konstruktiv tragende Rolle im Gemeinwesen vorbereiten wollen, sondern davon überzeugt sind, dass das Gemeinwesen in erster Linie dem Kind zu dienen hat”. Giesekus zu den Folgen: “Menschen werden egoistischer und erziehen ihre Kinder zu mehr Egoismus.”
Christlicher Lebensstil schützt vor Narzissmus
Der Theologe, Dozent und Erziehungsfachmann Wilhelm Faix (Eppingen) kritisierte ebenfalls den Individualismus. Schon Klein- und Vorschulkindern werde vermittelt, dass sie eine sehr starke Persönlichkeit haben müssten, um mit dem Leben zurechtzukommen. Sie lernten nicht, sich von anderen helfen zu lassen. Ein Grund dafür sei, dass der Zusammenhalt in der Familie nachlasse. Auch christliche Ehen und Familien scheiterten. Um keine Enttäuschungen zu erleben, verließen viele sich dann nur noch auf sich selbst und würden zu Egoisten. Wer dagegen einen christlichen Lebensstil pflege, wisse von seiner Abhängigkeit von Gott und dass er auch anderen Menschen mit Wertschätzung begegnen solle. “Das bewahrt davor, selbstverliebt zu werden”, so Faix.
Großbritannien: Überforderte Eltern rufen die Polizei
Unterdessen wird aus Großbritannien gemeldet, dass mit der Erziehung überforderte Eltern immer häufiger die Polizei zu Hilfe rufen. Schon die Frage, wer die Fernbedienung des Fernsehgerätes haben dürfe, könne zu einem gewalttätigen Streit ausarten, teilte die Polizei in einer Pressemitteilung mit. Vor allem Alleinerziehende wüssten nicht, wie sie ihre zwölf- bis 14-jährigen Kinder in Schranken weisen könnten. Eine Mutter aus Manchester habe mehrmals die Polizei gerufen, weil ihre 13-jährige Tochter nicht zur Schule gehen wollte. Das Versagen vieler Eltern in der Erziehung sei ein Tabuthema, sagte der Direktor der Denkfabrik Civitas, David Green (London). Behördenangaben zufolge brauchen 500.000 Eltern in Großbritannien Unterstützung bei der Kindererziehung. (APD)