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Wie 6 fromme Wünsche den Pietismus begründeten

Von: nicole Datum Beitrag: 21.03.2025 Kommentare: Keine Kommentare Tags: , , , , ,

Vor 350 Jahren veröffentlichte der Theologe Philipp Jacob Spener die „Pia Desideria“ (Fromme Wünsche). Darin prangerte er Missstände in der Kirche an und schlug ein Reformprogramm vor. Das Werk gilt als Gründungsdokument des Pietismus. IDEA-Reporter Karsten Huhn sprach mit Pfarrer Matthias Deuschle über die Bedeutung der „Frommen Wünsche“.

IDEA: Herr Deuschle, vor 350 Jahren formulierte Philipp Jacob Spener seine „Frommen Wünsche“. Sind seine Wünsche in Erfüllung gegangen?

Deuschle: Nicht alle, aber die wesentlichen. Spener hat dafür gesorgt, dass die Bibel eine zentrale Stellung im Protestantismus bekommen hat und nicht nur im Gottesdienst, sondern auch im Alltag gelesen wird.

IDEA: Wie hat Spener das angestellt?

Deuschle: Spener hatte erkannt, dass es nicht reicht, die Bibel im Gottesdienst und im Katechismus-Unterricht zu vermitteln. Er wollte, dass jeder Christ seine Bibel kennt – und zwar möglichst nicht nur einzelne Ausschnitte, sondern die ganze Heilige Schrift. Spener führte deshalb „Erbauungsstunden“ ein, die wir heute als Bibelkreise kennen.

IDEA: Die Bibelkreise wurden von vielen sehr misstrauisch gesehen. Man fürchtete, dass dadurch das Sektierertum gefördert werde.

Deuschle: Dieser Gefahr war sich Spener bewusst. Er hat die Bibelkreise deshalb so aufgebaut, dass sie sich in die Kirche eingefügt haben. So sollte bei den Erbauungsstunden nach Möglichkeit immer ein Pfarrer dabei sein.

IDEA: Spener forderte auch die „Aufrichtung und fleißige Übung des geistlichen Priestertums“. Das Priestertum aller Gläubigen hatte 150 Jahre zuvor auch schon Martin Luther gefordert.

Deuschle: Speners Reformschrift baut auf Martin Luther auf. Er beanspruchte nicht, etwas Neues zu sagen, sondern zeigte, wo die Anliegen Luthers nicht verwirklicht worden sind. Luther hatte das Priestertum aller Gläubigen im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche betont, die den Priesterstand besonders heraushob. Spener sah aber, dass diese Lehre in der Praxis evangelischer Gemeinden zu kurz kam. Jeder Christ sollte seinem Nächsten ein Priester sein. Man sollte sich also gegenseitig mit der Bibel erbauen, ermahnen und trösten.

IDEA: Speners dritte Forderung lautete: „Den Leuten fleißig einzubilden, das Christentum bestehe nicht in Wissen, sondern in der Praxis.“

Deuschle: Spener legte den Schwerpunkt auf die praxis pietatis, also die Praxis der Frömmigkeit. Die Stärke Luthers war es ja, die biblische Lehre wieder ans Licht zu bringen. Spener erinnerte daran, dass diese Lehre dann auch gelebt werden muss. Der Glaube sollte Früchte bringen, und diese Früchte sollten sichtbar sein. Dass der christliche Glaube eine lebensverändernde Kraft hat, ist ein Gedanke, der sich durch seine ganze Reformschrift zieht.

IDEA: Am Pietismus gab es damals wie heute Kritik. Zu Speners Zeiten galten Pietisten als Frömmler, heute werden sie als „Pietcong“ verspottet. Warum ist das so?

Deuschle: Die Pietisten wurden von Anfang an argwöhnisch betrachtet. Spener kritisierte ein selbstgefälliges, erlahmtes Christentum und deckte schonungslos die Missstände auf. Das konnte nicht allen gefallen. Andererseits gibt es auch berechtigte Kritik am Pietismus.

IDEA: Welche Schwachstellen werden zu Recht kritisiert?

Deuschle: Teilen des Pietismus wird zu Recht vorgeworfen, dass sie sich aus der Welt zurückziehen und sich selbst genügen. Dieser Gefahr des Separatismus war sich Spener bewusst und warnte immer wieder davor. Zudem forderte er, dass Pietisten „in Demut und ohne Zank“ auftreten sollten.

IDEA: So weit die Theorie!

Deuschle: Ich weiß, dass das in manchen pietistischen Zirkeln anders ist.

IDEA: Gibt es eine weitere Schwachstelle?

Deuschle: Eine Schattenseite von Speners Fokussierung auf die ganze Bibel ist die Tendenz im Pietismus, nicht mehr das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden zu können. Davor war das Luthertum stark auf den Katechismus fokussiert, auf die wichtigen Glaubensstücke, also auf das, worauf es ankommt im Leben und im Sterben.

IDEA: Die ganze Bibel auslegen bedeutet: 2.000 Seiten Gelegenheit für Streit.

Deuschle: Das kann man heute in den Sozialen Medien beobachten. Dort gibt es immer mehr Bibelausleger, die ohne theologische Kenntnisse nach dem Motto „Ich und meine Bibel“ ihre Lehren vertreten. Für Spener gehörte aber beides zusammen: die Frömmigkeit und die Gelehrsamkeit. Diese Verbindung ging im Pietismus immer mal wieder verloren.

IDEA: Zu Speners „einfältigen Vorschlägen“ gehörte der Rat, wie man sich in Religionsstreitigkeiten zu verhalten habe.

Deuschle: Spener riet zu einem liebevollen Umgang und zu einem Streit, der von der Fürbitte getragen ist. Dieser Rat gilt bis heute. Spener hätte es nicht erwähnt, wenn es zu seiner Zeit nicht daran gefehlt hätte. Bei den Streitfragen gibt es jedoch einen großen Unterschied: Damals stritt man vor allem um dogmatische Fragen, also um Fragen nach der Rechtgläubigkeit und dem Heil, der Bedeutung von Taufe, Abendmahl und Vorherbestimmung. Heute entzündet sich der Streit eher an ethischen Fragen.

IDEA: Spener wollte auch das Theologiestudium reformieren: „Es sollte so gebessert werden, dass die Akademien, wie es recht und billig ist, auch als rechte Pflanzgärten der Kirche in allen Ständen und als Werkstätten des Heiligen Geistes erkannt werden. Nicht aber sollte der Weltgeist, der Ehrgeiz-, der Sauf-, der Zank-, der Balge-Teufel im äußeren Leben der Studenten bestimmend sein.“

Deuschle: Die Hälfte von Speners Reformvorschlägen zielte auf die Person des Predigers. In der Ausbildung kam es ihm darauf an, dass das Studium nicht nur ein wissenschaftliches Bildungserlebnis ist, sondern auch der persönliche Glaube gefördert wird. Hier spielten also wieder Frömmigkeit und Gelehrsamkeit zusammen. Studenten sollten durch ihre Professoren geistlich begleitet werden, und während des Studiums sollte der Praxisanteil verstärkt werden. Spener war zudem gegen ein Einheitsstudium für alle. Er wünschte, dass die Studenten je nach Begabung und künftiger Verwendung individuell gefördert werden.

IDEA: Das hört sich alles sehr gut an. Ist es an den Universitäten jemals verwirklicht worden?

Deuschle: Es gab Ansätze dazu, vor allem an der Universität Halle, bei deren Gründung Spener mitreden konnte. Aber auf Dauer haben sich die Vorschläge nicht durchgesetzt. Was von Speners Forderungen geblieben ist: Die Bibelwissenschaften sind ins Zentrum des Studiums gerückt. Vorher hat man sich vor allem an Dogmatiken abgearbeitet. Die Verbindung von Wissenschaft und Frömmigkeit sehe ich an den Theologischen Fakultäten leider nicht verwirklicht. Deshalb gibt es ja Einrichtungen wie das Albrecht-Bengel-Haus.

IDEA: Was bietet das Bengel-Haus, was im Studium zu kurz kommt?

Deuschle: Geistliche Begleitung und Mentoring, Unterstützung im persönlichen Glauben und Kurse zur Persönlichkeitsentwicklung. Daneben bieten wir auch Möglichkeiten, in der Gemeinde aktiv zu werden, um das, was man im Studium gelernt hat, anzuwenden.

IDEA: Die Tübinger Theologieprofessoren waren von Speners Vorschlägen alles andere als begeistert. Sie lehnten die Reformen ab.

Deuschle: Das ist richtig. Aber die Kirchenleitung in Stuttgart sah das anders. Sie machte sich Speners Vorschläge zu eigen. Das ist einer der Gründe, warum der Pietismus in Württemberg so starke Wurzeln schlagen konnte.

IDEA: Heute gibt es in der Kirche vor allem Strukturreformen: Stellenstreichungen, Zusammenlegung von Gemeinden, Sparmaßnahmen. Inhaltliche Reformen gibt es dagegen keine.

Deuschle: Geistliche Erneuerungen wie der Pietismus oder die Erweckungsbewegung wurden nie durch Strukturreformen ausgelöst, sondern durch eine theologische Konzentration auf das Wort Gottes. Davon kann ich derzeit leider nicht viel erkennen.

IDEA: Die Not könnte irgendwann so groß sein, dass sich doch etwas bewegt.

Deuschle: Von den großen Kirchen erwarte ich da nicht viel. Bei den derzeitigen Debatten geht es nicht um die Bibel, sondern vor allem um das Überleben der Institution. Hoffnung machen mir eher einzelne Gemeinden, die geistlich leiten wollen und zum Beispiel Glaubenskurse anbieten.

IDEA: Das Leiden an der Kirche gehört zum Christenleben.

Deuschle: Das war schon bei Spener der Fall. Als Grund für die „Pia Desideria“ gibt er an, dass ihn die Arbeit in der Kirche „öfter herzlich betrübt, das Gewissen beschwert und viele Sorgen gemacht“ habe. Speners Leiden war aber auch mit Hoffnung verbunden. Er hat seine Kirche nie aufgegeben.

IDEA: Speners sechste Forderung galt den Predigten. Diese sollten der „Erbauung“ dienen. Was macht eine Predigt erbaulich?

Deuschle: Dass sie Christus zu den Menschen bringt. Zu Speners Zeiten dauerten Predigten oft sehr lang, und die Prediger stellten ihre theologische Gelehrsamkeit zur Schau. Für Spener sollte eine Predigt jedoch keine Zusammenstellung von theologischem Lehrbuchwissen sein, sondern bibelgesättigt und alltagsnah den Glauben stärken.

IDEA: Ein Prediger kann eine Menge falsch machen.

Deuschle: Die „Predigtnot“ beschäftigt die Kirche zu allen Zeiten. Eine Predigt sollte deutlich machen, was Christus in unserem Leben bewirkt. Sie muss Gottes Wort verständlich rüberbringen und dabei zugleich auf die Lage der Predigthörer eingehen. Das ist eine große Kunst.

IDEA: Ein Pastor kann aber nicht jede Woche die beste Predigt seines Lebens halten.

Deuschle: Natürlich wird es immer mal bessere und mal schlechtere Predigten geben. Die Frage ist: Was will ich mit meiner Predigt erreichen? Habe ich das Verlangen, den Glauben meiner Hörer zu stärken? Eine Predigt ist kein Hochleistungssport, aber sie braucht eine geistliche Grundhaltung.

IDEA: Spener erwartete, dass sich die Juden bekehren und das Papsttum fallen würde. Beides blieb aus.

Deuschle: Spener rechnete damit, dass beides passiert, bevor der Jüngste Tag anbricht. In beiden Fällen hat er sich getäuscht. Im Pietismus gab es zahlreiche solcher Endzeiterwartungen. Zuvor ging man immer davon aus: Der Jüngste Tag steht unmittelbar bevor. Jetzt rechnete man mit einer längeren Zeit. Auch der Theologe Albrecht Bengel (1687–1752) irrte sich. Er datierte den Anbruch des Tausendjährigen Reiches auf das Jahr 1836. Er schränkte aber ein: Wenn es nicht so käme, läge es nicht an der Bibel, sondern an seiner Auslegung. Solche Irrtümer gehören auch zum Erbe des Pietismus.

IDEA: Speners Reformschrift war geprägt von der „Hoffnung auf bessere Zeiten“.

Deuschle: Spener glaubte daran, dass der Kirche Zukunft verheißen ist. Er schöpfte die Hoffnung aus Gottes Zusagen, nicht aus dem, was er sah. Ohne diese Hoffnung müssten wir verzweifeln.

IDEA: Welche Zukunft hat die Kirche in unserer Zeit?

Deuschle: Darüber möchte ich nicht spekulieren. Es ist gerade viel im Umbruch, und mir fehlt die Fantasie dafür, wo die Landeskirchen in 20 Jahren stehen werden. Wir haben uns schon so häufig geirrt. Wir können aber in der Ausbildung der nächsten Generation dafür sorgen, dass der Kompass, die Ausrichtung auf Christus, funktioniert, so dass sie sich auch auf neuen Wegen zurechtfindet.

IDEA: Vielen Dank für das Gespräch.

Pfarrer Matthias Deuschle (54) ist Rektor des Albrecht-Bengel-Hauses Tübingen. Das nach dem schwäbischen Theologen Johann Albrecht Bengel (1687–1752) benannte Studienhaus hat seit der Gründung 1969 mehr als 1.000 Studenten begleitet. Derzeit betreut die Einrichtung 122 Studenten. Davon studieren 87 Evangelische Theologie.

Philipp Jacob Spener (1635–1705) war ein lutherischer Theologe und gilt als Begründer des Pietismus. Er war Prediger in Straßburg, Frankfurt/Main, Dresden und Berlin sowie beteiligt an der Gründung der Reformuniversität Halle an der Saale. 1675 veröffentlichte er sein Hauptwerk „Pia Desideria oder Herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche“. Spener gilt auch als Erfinder der Hauskreise zum Bibelstudium in Privathäusern.

Speners Reformvorschläge für die Kirche

1. „Das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen“ Die Bibel sollte täglich und fortlaufend gelesen werden. Zudem sollte es private Treffen (Bibelkreise) zur Auslegung und zum Austausch über die Bibel geben.

2. „Aufrichtung und fleißige Übung des geistlichen Priestertums“ Das Priestertum aller Gläubigen sollte gestärkt werden. Nicht nur der Pfarrer, sondern jeder Christ sollte in der Lage sein, die Bibel auszulegen.

3. „Den Leuten fleißig einzubilden, das Christentum bestehe nicht in Wissen, sondern in der Praxis“ Rechte Lehre und rechtes Handeln sollen einander entsprechen. Dem Wissen um Gottes Gebote muss die Tat folgen. Dies gilt insbesondere für die Nächstenliebe.

4. „Wie man sich in Religionsstreitigkeiten zu verhalten habe“ Streitfragen sollen in Liebe und Gebet gelöst werden.

5. „Erziehung der Prediger auf den Universitäten“ Theologiestudenten sollen in ihrem Glauben gefördert und begleitet werden. Professoren sollen geistliche Vorbilder sein und als Mentoren dienen.

6. „Einrichtung der Predigten zur Erbauung“ Predigten sollen nicht in erster Linie theologisches Wissen vermitteln, sondern den Glauben der Hörer stärken.

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