Wie frei dürfen Christen Gottesdienst feiern? Darüber diskutierten praktische Theologen von Universitäten und freikirchlichen wie evangelikalen Hochschulen bei einer Tagung an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel. Ein Bericht von idea-Redakteur Karsten Huhn.
“Wenn ihr zusammenkommt, hat jeder etwas, das er beitragen kann: einen Psalm, eine Lehre, eine Offenbarung, eine Sprachenrede, eine Übersetzung – und alles wird dem Aufbau der Gemeinde dienen.” (Paulus im 1. Brief an die Korinther 14,26)
Liturgie im Gottesdienst? Das wird meist mit der katholischen, orthodoxen oder lutherischen Kirche verbunden. Aber gibt es eigentlich so etwas wie eine freikirchliche Liturgie, also eine Ordnung, die Gebete, Lesungen, Sakramente und Verkündigung umfasst und dem Gottesdienst eine Form gibt? David Plüss, Professor für Homiletik und Liturgik an der Universität Bern, hat freikirchliche Gottesdienste besucht. Seine Analyse ist ernüchternd: Die meisten Freikirchen tun sich schwer mit der Liturgie. Die protestantische Bewegung sei eine “antirituelle Bewegung” – und die Ablehnung von Ritualen sei bei Freikirchen besonders stark ausgeprägt. Für evangelische Kirchen stehe die Verkündigung des Wortes Gottes im Mittelpunkt des Gottesdienstes. Wenn man frage “Wie war der Gottesdienst?”, sei meist nur von der Predigt die Rede. Dagegen spiele die Liturgie nur eine untergeordnete Rolle. Sie sei das, “was übrigbleibt, wenn vom Gottesdienst Predigt und Lieder abgezogen werden”: Segen, Gebet und Händedruck.
Wenn Freikirchen alles anders machen
Die von Plüss besuchten freikirchlichen Gottesdienste bemühten sich, verständlich, eingängig und niederschwellig zu sein. So gebe es statt des trinitarischen Votums zu Beginn des Gottesdienstes – “Wir feiern diesen Gottesdienst im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes” – in manchen Freikirchen eine launige Begrüßung zum Aufwärmen. Der Gottesdienst solle sich anfühlen wie ein Fest oder Konzert. Die Musik stamme nicht aus dem 16. Jahrhundert, sondern aus der Gegenwart und sei unterhaltend und rhythmisch. Freikirchliche Gottesdiensträume wollten nicht sakral, sondern jugendlich cool sein und Wohnzimmeratmosphäre vermitteln. Auch die Bekleidung sei betont locker, man trage kurze Kleidung und zeige Haut. Dagegen lehne man Tradition und Rituale offenkundig ab. So sei das Abendmahl, das er in einer Freikirche erlebt habe, “gespenstisch entleert” gewesen: Auf die Einsetzungsworte wurde ebenso verzichtet wie auf den Segen zum Ende des Gottesdienstes. Stattdessen dominiere eine “homiletische Dauermoderation” – das heißt: Im ganzen Gottesdienst wird gepredigt, begründet, erklärt.
Allerdings lasse die “protestantische Liturgielosigkeit” viele Besucher überfordert, verärgert oder unbefriedigt zurück: “Das Unbehagen an der vermeintlichen liturgischen Formlosigkeit kommt daher, dass diese keine Freiheit gewährt, sondern als anstrengend und beengend erlebt wird.” Und das gelte nicht nur für Freikirchler, sondern auch für reformierte Christen. Plüss: “Wir sitzen im selben Boot.”
Das ewige Streitthema: Musik im Gottesdienst
Der Rektor der (evangelikalen) Freien Theologischen Hochschule Gießen, Helge Stadelmann, hält die Beobachtungen von Plüss für eine “realistische Schilderung” und bestätigte “Mängel und Probleme” bei der Liturgie in Freikirchen. Die meisten Freikirchen böten eine “hemdsärmelige Liturgie”, zudem müsse sich der Besucher in jeder Gemeinde neu orientieren: “Überall, wo man hinkommt, ist es anders”, so Stadelmann, der selbst einer Baptistengemeinde angehört. Stadelmanns Empfehlung zur Gottesdienstgestaltung lautet schlicht: “Neues schaffen, Altes wertschätzen”. Jede Generation solle ihre eigenen Ausdrucksmöglichkeiten finden, müsse dabei aber zugleich die Tradition der Gemeinde anerkennen. In der Praxis sei dieser Rat allerdings oft nicht so einfach umzusetzen. Wolle man beispielsweise die Musik im Gottesdienst verändern, seien Auseinandersetzungen die Regel. So habe während der Lobpreiszeit in seiner Gemeinde einmal ein Mann mit einer Zange das Lautsprecherkabel gekappt. Er war der Meinung, dass einzig die Orgel das angemessene Instrument für einen Gottesdienst sei. Seinen Studenten rät Stadelmann deshalb: “Wenn sie Ärger haben wollen, müssen sie etwas an der Musik ändern.” Dann riskiere ein Pastor schnell seine Stelle.
Dem Teufel die schönen Melodien überlassen?
Die einen lehnten eine Vermischung von säkularer und sakraler Musik ab und fürchteten heidnische Wurzeln oder gar dämonische Einflüsse von Musik. Sie empfänden etwa Popmusik im Gottesdienst als unangemessen, weil sie den “Einbruch einer Trivial- und Fastfoodkultur im Vergleich zum Schwarzbrot der Hochkultur” bedeute. Die andere Seite wolle zeitgemäße Ausdrucksformen für das Evangelium finden und argumentiere: “Sollte man dem Teufel all die schönen Melodien überlassen?” Stadelmann sprach sich für eine Integration von Popularmusik im Gottesdienst aus, schließlich habe sie christliche Wurzeln – geprägt wurde sie von afrikanischen Sklaven in Nordamerika. Solche Anbetungsmusik weise in der Regel einfache Melodien und Rhythmen auf, sei daher leicht mitsingbar und habe bereits Generationen geprägt. Zugleich gibt Stadelmann folgende Empfehlungen:
- Die Musik sollte in “gottesdiensttauglicher Lautstärke” gespielt werden – also nicht zu laut.
- Die Lieder sollten möglichst auf Deutsch gesungen werden, da Englisch von der Mehrzahl der Gottesdienstbesucher nicht ausreichend verstanden werde.
- Bei jedem Lied müsse man fragen: Vermittelt es theologische Wahrheiten? Ist es ewigkeitstauglich?
- Metaphern wie “Blut Jesu” sollten erklärt werden.
- Manche Themen kommen in moderner Lobpreismusik kaum noch vor, etwa Leid und Klage. Diese Lieder brauchten daher Ergänzung (durch bewährte Lieder vergangener Generationen), weil sonst Vereinseitigung drohe.
Ein Gottesdienst für alle – nicht nur für Jugendliche
Eine Gemeinde sollte im Gottesdienst altes wie neues Liedgut singen, “sonst wird die Gemeinde zu einer Sekte”. Stadelmann: “Es ist arm, wenn eine Gemeinde nur noch den neuesten Liedkreationen nachhechelt. Es ist genauso arm, wenn eine Gemeinde den Kontakt zur Zeitgenossenschaft abbricht.” So könne man alte Lieder auch mal mit neuer Instrumentierung – und neue Lieder klassisch und ruhig spielen. Gute Erfahrungen habe er im Gottesdienst auch mit altkirchlichen Gebeten gemacht. Skeptisch steht Stadelmann dagegen Gottesdiensten für besondere Zielgruppen – etwa in Jugendkirchen – gegenüber: “Ich nehme an, sie wären beim Apostel Paulus nicht durchgegangen.” Der Gottesdienst sollte ein Gottesdienst für alle sein. Aufgabe der christlichen Gemeinde sei es, milieuübergreifend zu wirken und Grabenkämpfe zu überwinden.
Methodisten: Zwischen Landes- und Freikirche
Sowohl vom hochkirchlichen Erbe der anglikanischen Kirche von England als auch von Einflüssen der Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert in Deutschland geprägt ist die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland. Für den Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen, Holger Eschmann, ergibt sich daraus eine “Spannung zwischen Bewegung und Kirche, Freiheit und Ordnung” seiner methodistischen Kirche. Derzeit nehme bei den Methodisten der Trend zum hochkirchlichen, sakramentalen Gottesdienst zu, so Eschmanns Beobachtung. Collarhemd und Talar seien lange bei Pastoren verpönt gewesen, heute würden sie jedoch von vielen gerne getragen. Eschmann nennt sechs Anforderungen an einen methodistischen Gottesdienst:
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Der Gottesdienst sollte als Gottesdienst erkennbar sein. Er sollte im Namen des dreieinigen Gottes gefeiert werden – dieses Votum zu Beginn des Gottesdienstes ist bei etwa 85 Prozent der methodistischen Gemeinden üblich.
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Der Gottesdienst sollte nachvollziehbar und in zeitgemäßer Sprache gehalten werden. Gäste sollten ihn auch ohne Theologiestudium verstehen können.
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Das Abendmahl sollte wertgeschätzt werden. Der Begründer des Methodismus, John Wesley (1703-1791), feierte es mehrmals die Woche und empfahl, es wenigstens jeden Sonntag zu feiern. Bei methodistischen Gemeinden in Deutschland sei es jedoch die Regel, das Abendmahl vierteljährlich oder alle vier bis sechs Wochen zu feiern. Eschmann: “Von einer wöchentlichen Feier sind wir in den meisten Gemeinden noch weit entfernt.”
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Der Gottesdienst sollte Möglichkeiten bieten, sich bei Gesang, freien Gebeten oder persönlichen Zeugnissen zu beteiligen.
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Charakteristisch für einen Gottesdienst sollte ein lebendiger Gemeindegesang sein.
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Eine besondere Stellung in der Liturgie methodistischer Gottesdienste hat die “Zeit der Gemeinschaft”: Bekanntmachungen werden vor der Verkündigung verlesen. So werde die hohe Bedeutung der Gemeinschaft betont.
Für Eschmann ist ein Gottesdienst die “Unterbrechung der gnadenlosen Routine des Alltags”. Dabei sei es hilfreich, nicht immer dem “Zwang zur Originalität” zu folgen, sondern auf die Rituale der Kirche zurückzugreifen. In der Gottesdienstgestaltung stecke die Evangelisch-methodistische Kirche zwischen Landes- und Freikirche. Eschmann: “Man wirft uns manchmal vor, weder Fisch noch Fleisch zu sein. Aber damit kann ich gut leben. Der einzig wahre Platz ist der zwischen den Stühlen.”
Ziehen moderne Gottesdienste Kirchenfremde an?
Modern gestaltete Gottesdienste sollen vor allem Nicht-Christen erreichen. Doch tun sie das wirklich? Der Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich, Ralph Kunz, zieht eine ernüchternde Bilanz: “Wenn neue Gottesdienste tatsächlich neue Menschen erreichen würden, müssten Heerscharen von Menschen in unseren Kirchen sein – sind sie aber nicht.” Neue Angebote, die sich etwa von dem besucherfreundlichen Ansatz der US-MegaÂgemeinde Willow Creek inspirieren ließen, rekrutierten sich vor allem aus Christen. Solche “Trendgemeinden” profitierten vor allem von “Kirchen-Nomaden”, also von Menschen, die von Gemeinde zu Gemeinde wandern und sich das jeweils beste Angebot herauspicken. Erfolgreiche neue Gemeinden wie die International Christian Fellowship (ICF) in Zürich hätten vor allem vom Aderlass anderer Kirchen profitiert. Zwar hätten neue Gottesdienste eine Zeit lang Anziehungskraft. Doch nach und nach gehe der Reiz des Neuen verloren. Häufig werde das Angebot dann wieder eingestellt. Kunz: “Manche Gemeinden sind daran fast zerbrochen, Willow Creek zu kopieren.” Denn ein besucherfreundlicher Gottesdienst – meist mit aufwendiger Musik und oft mit künstlerischen Einlagen wie kleinen Theaterprogrammen – sei eine Frage der Ressourcen. Um erfolgreich zu sein, brauche es Geld und Personal und eine Mindestzahl an Besuchern. Jahrelang hätten viele Gemeinden mit neuen Formen experimentiert, dennoch habe sich der generelle Besucherrückgang in Gottesdiensten nicht stoppen lassen. Angesichts des bescheidenen Erfolgs sei man nun an vielen Orten ernüchtert. Liturgische Innovationen seien eben auch kein Erfolgsgarant.
Große Unkenntnis im Pietismus
Einen kritischen Blick auf die eigene liturgische Tradition warf der Rektor des (pietistischen) Theologischen Seminars St. Chrischona, Horst Schaffenberger (Bettingen bei Basel). Chrischona-Gemeinden sind in Deutschland meist Gemeinschaften in der Landeskirche und in der Schweiz selbstständige Gemeinden. Über den “Reichtum der klassischen Liturgie” werde in St.-Chrischona-Gemeinschaften “auch nicht annähernd” nachgedacht, meinte er. In Sachen Liturgie herrsche eine “hohe Unkenntnis” und es gebe “großen Nachholbedarf”. So werde das Abendmahl häufig ohne Einsetzungsworte gefeiert. Schaffenberger: “Wir haben keine gemeinsame Form. Jeder macht, was er will.” Er wünsche sich für die Chrischona-Gemeinschaften eine Selbstverpflichtung auf eine gemeinsame “St.-Chrischona-Liturgie” – dass dies Wirklichkeit werde, sei allerdings eher unwahrscheinlich.
Von den Katholiken lernen?
Auch der Praktische Theologe an der (evangelikalen) Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, Stefan Schweyer, hat freikirchliche Gottesdienste verkostet. Vielerorts gebe es “eine einfache Suppe – zum Teil ist aus ihr aber eine fade Brühe geworden. Durch eine Prise Liturgie ließe sich die ursprüngliche Würze wiedergewinnen.” Laut Schweyer bestimmten oft Gedankenlosigkeit und Beliebigkeit freikirchliche Gottesdienste. Es gebe “endlose Gebetszeiten” und bei den Bekanntmachungen “peinliche Mitteilungen”. In manchen Gottesdiensten werde die Liturgie zudem von “charismatischen Einzelkämpfern” dominiert. Dagegen sei er von der Liturgie katholischer Gottesdienste “total beeindruckt”, so Schweyer. Wenn er in einer katholischen Messe sitze, denke er: “Wenn nur die Hälfte von diesen Gedanken in einen freikirchlichen Gottesdienst einfließen würde …” Für freikirchliche Gottesdienste wünscht sich Schweyer die Wiederentdeckung von Vaterunser und Psalmen, die Lesung von alt- und neutestamentlichen Bibeltexten, die Abwechslung von freien und vorgegebenen Gebeten, von freudigem Gesang und Stille, Betroffenheit und Begeisterung. Für Schweyer ist ein guter Gottesdienst vergleichbar mit einem mehrgängigen Menü: “Alle Speisen müssen in einer gewissen Spannung zueinander stehen.” Der Appetit auf gehaltvolle Gottesdienste ist also vorhanden – doch wo werden sie zubereitet?
Empfehlungen für Gottesdienste
(besonders in Freikirchen und pietistischen Gemeinschaften), die auf der Tagung in Basel geäußert wurden [Auswahl]:
Ablauf
- Es sollte nicht jeder Gottesdienst anders verlaufen.
- Zu jedem Gottesdienst sollten Vaterunser, Glaubensbekenntnis und der biblische Segen (4. Mose 6,24-26) gehören.
Gebete
- Gebetsgemeinschaften sollten nicht zu lange dauern.
- Auch vorformulierte Gebete sollten genutzt werden (z.?B. Psalmen).
Musik
- Nicht nur moderne Lieder singen, sondern auch bewährte Choräle aus dem 16. bis 19. Jahrhundert.
- Auf englische Lieder sollte verzichtet werden.
- Bei Bands: nicht “laut” aufdrehen.