Die Frage nach der richtigen Ernährung hat in den letzten Jahren religiöse Züge angenommen. Mit geradezu missionarischem Eifer werden wir von Ernährungsgurus beraten, die bei der richtigen Kost Erlösung und ewiges Leben versprechen. Und wir machen mit. Ein Beitrag von idea-Redakteurin Julia Bernhard.
Ich bin schwanger. Ich weiß, dass ungewaschener Salat für das Baby gefährlich sein kann. Und rohes Fleisch. Und natürlich Alkohol. So weit, so gut. Das wussten schon unsere Eltern. Seit neuestem soll man jedoch vor allem in den letzten Schwangerschaftsmonaten auf Zucker und Weizenmehlprodukte verzichten. Die Kinder werden sonst zu groß. Das will ja keiner … Wie wäre es damit, einfach gar nichts mehr zu essen?! Nein, nein, Sarkasmus ist natürlich überhaupt nicht angebracht bei diesem ernsten Thema. Denn davon, was wir unseren Körpern zuführen, hängt schließlich unser Heil und das vom Rest der Welt ab, so das Mantra vieler Ernährungsberater. Ich bemühe mich daher, mich daran zu halten. Mit eisernem Willen und dem Wissen darum, dass es dann allen Beteiligten bessergehen wird. Offensichtlich bin ich auch anfällig für eine – mit gesundem Abstand betrachtet – etwas zu intensive Beschäftigung mit Lebensmitteln. Obwohl ich von mir behaupten würde, als Frau eines Agrarwissenschaftlers ein gutes Wissen rund um Ernährung und die Produktion unserer Nahrungsmittel erworben zu haben und meinen Körper nicht abgrundtief zu hassen – nur so viel, wie man das eben mit Anfang 30 und als bald Zweifach-Mama tut.
Das hat weltanschauliche Züge
Einmal habe ich bei Amazon nach einem Buch über gesunde Ernährung für Kinder in den ersten drei Lebensjahren gesucht. Seitdem bekomme ich ständig Vorschläge für neue Werke aus der Feder eines selbst ernannten Experten. Auch für meine erwachsene Wenigkeit. Sollte jemand ernsthaft internetresistent sein oder niemals bei Amazon einkaufen, wird er spätestens beim gemeinsamen Essen mit Freunden oder bei Gesprächen mit ernährungsbewussten Kollegen mit dem Thema konfrontiert. Wer isst was? Was ist gut? Was ist besser?
Keiner kommt drum herum. Auch Kai Funkschmidt nicht. Seit rund fünf Jahren beschäftigt sich der Theologe, der als Experte für Esoterik bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (Berlin) arbeitet, mit der neuen Religion „Essen“. Als er damals von einer Journalistin angerufen und um ein Interview über Ernährung gebeten wurde, musste sie ihm gar nicht lange erklären, was Sache war und wieso sie meinte, dass er der richtige Ansprechpartner dafür sei. „Die Leute reden über Essen wie über Religion. Das merkt jeder, der aufmerksam in der Kantine lauscht. Das Thema erhitzt die Gemüter. Ich habe das weiter beobachtet, und mir wurde sehr schnell klar: Das hat weltanschauliche Züge!“
Auch Christen sind Vegetarier
Je säkularer die Welt werde, so Funkschmidt, desto mehr verlagere sich alles, was der Mensch erreichen wolle, auf das Hier und Jetzt. „Vereinfacht gesagt: Da wir weniger religiös sind als früher, tritt das Essen an die Stelle der Religion. Wir meinen, mit der richtigen Ernährung etwas zu erreichen.“ Aber auch Christen seien anfällig dafür, der Ernährung eine religiös überhöhte Stellung in ihrem Leben einzuräumen: „Die Säkularisierung hat natürlich inzwischen auch in den Kirchen Verbreitung gefunden. Ich vermute aber, dass extreme Essensgewohnheiten eher in kulturell-christlichen Milieus verbreitet sind als in hochchristlichen Kreisen.“
Du bist, was du isst?
„Ernährung ist – ähnlich wie Religion – ungeheuer bestimmend dafür, wer wir sind und wie wir wahrgenommen werden“, erklärt Funkschmidt. „Die Briten sagen, wenn sie schlecht gelaunt sind, ‚Krauts‘ zu uns Deutschen. Sie benennen uns also sogar nach unserem Essen.“ Die länderspezifischen Ernährungsgewohnheiten seien eine der ersten Hürden, die Menschen nehmen müssten, die in ein fremdes Land auswandern. „Ich bin selber mehrfach innerhalb Europas umgezogen, und immer musste ich mich zuerst an die Nahrung im neuen Land gewöhnen.“ Dieser enorm große Teil unseres Lebens ist also logischerweise anfällig dafür, überhandzunehmen und auszuarten. Denn wenn ich bin, was ich esse, kann ich mich natürlich auch optimieren, wenn ich besser esse.
Religiöse Heilshoffnung
Vor allem, wenn ich verzichte. So wie es die meisten „Essens-Religionen“ predigen. Die Verfechter des Biotrends behaupten: Nur ökologisch hergestellte Nahrungsmittel sind gut. Alles andere sei verpestet. Die Vegetarier sagen: Fleisch geht gar nicht. Wieder andere meinen, Zucker müsse gemieden werden. Finger weg von der süßen Verführung, der bösen Schlange! Inzwischen verzichten auch immer mehr Menschen auf Weizen. Das in ihm enthaltene Gluten soll gesundheitsschädigend sein. Nachgewiesen ist das nur für Menschen, die tatsächlich an einer Unverträglichkeit, der Zöliakie, leiden. Besonders abgedreht wird es bei der sogenannten „Paleo-Diät“. Ihre Verfechter ernähren sich wie in der Steinzeit, will heißen: vor allem Fleisch und Gemüse, auf gar keinen Fall Getreide- oder Milchprodukte. Fasten an sich sei ja nichts Schlimmes, gibt Funkschmidt zu. „Luther hat das sehr geschätzt. Er hat allerdings Menschen kritisiert, die sich dadurch versprechen, gutes Ansehen bei Gott zu erwirken. Für heute übersetzt: Die Leute denken, sie könnten dadurch ihre Gesundheit verbessern, vielleicht sogar etwas heilen. Das ist eine Art religiöse Heilshoffnung.“
Veganismus ist lebensbestimmend
Ganz groß im Verzichten und Optimieren ihres eigenen Ichs sind die Veganer, eine Gruppierung, die Kai Funkschmidt besonders unter die Lupe genommen hat. „Veganismus ist für manche seiner Anhänger lebensbestimmend, eben wie eine Religion“, sagt der Theologe. „Sie haben sich nicht nur dafür entschieden, nur pflanzliche Produkte zu essen, sondern ihr gesamtes Dasein danach auszurichten.“ Veganer dürfen keine Lederjacken tragen und keine Schaffelle in den Kinderwagen legen. Meine Tochter wäre erfroren. Laut dem Institut für Demoskopie Allensbach lebten 2017 in Deutschland rund 840.000 Veganer. Der Vegetarierbund Deutschland spricht sogar von 1,3 Millionen Anhängern.
Ich wollte es einen Tag lang probieren. Wirklich. Ich wäre aber wohl schon beim Frühstück gescheitert und habe deswegen beschlossen, mir einfach nur auszumalen, was passieren würde, wenn ich so essen würde. Mir fiel tatsächlich nicht viel ein, was ich kochen könnte. Außer Kartoffeln. Ohne Butter und Quark. Langweilig. Es ist in jedem Fall eine unglaubliche Einschränkung, die durchzuhalten sehr viel Willen erfordert. Die Veganer werden nun sagen, dass das gar nicht wahr ist und man sich an alles gewöhnen kann und es viele Ersatzprodukte, zum Beispiel aus Soja, gibt. Alles sehr gesund …
Motivation: Weltverbesserer sein
Und natürlich hinterlässt man mit dieser Essensweise die Welt ein Stückchen besser. Wissenschaftler bezweifeln beides. Und ob vor allem Letzteres auch die tatsächliche Motivation der Anhänger ist, findet Kai Funkschmidt ebenso fraglich: „Meiner Meinung nach geht es nur vordergründig um Dinge wie die Bekämpfung des Welthungers. Plausibler finde ich, dass die Essensvorschriften eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe ermöglichen. Außerdem kann ich mir sagen: Ich bin ein Mensch, der sich bis ins Essen hinein danach ausrichtet, was das Gute ist. Ich bin also ein ‚Guttuer‘.“ Dieses Überlegenheitsgefühl gebe den Anhängern eine Aufwertung gegenüber dem Rest der Gesellschaft.
Die Kontrolle zurückerlangen
Außerdem hätten heutzutage viele Menschen das Gefühl, vor allem im Bereich der Ernährung die Kontrolle zu verlieren, da sie vieles nicht verstünden: „Wenn ich alles überdenke, was ich zu mir nehme, und es mir genau aussuche, bekomme ich die Kontrolle zurück. Wir wissen heute oft nicht genau, woher unser Essen kommt. So entziehe ich mich der ‚bösen‘ Lebensmittelindustrie. Ich schlage ihr ein Schnippchen.“ Obwohl wir ernsthaft eigentlich keinen Grund hätten anzunehmen, dass sie uns schaden wolle, betont er. Dennoch vermuten nicht wenige Verschwörungen in der Industrie.
Missionarische Aktivitäten
Viele Mitglieder der Szene sind daher auch richtiggehend missionarisch aktiv. „Das ist doch klar. Zu jeder Weltanschauung, die sich mit individuellen und universalen Heilsversprechen verbindet, gehört Mission“, erklärt Funkschmidt. „Hier wird eben gepredigt: Das Friedensreich steht kurz bevor, wenn sich alle dazu entschließen könnten, so zu leben wie ich.“ Viele versuchten, ihr persönliches Umfeld zu bekehren. „Das kann sehr belastend für Beziehungen und Freundschaften sein. Eltern können ein Lied davon singen, dass sich ihre pubertierenden Töchter auf dem Vegantrip von ihnen abgrenzen. Schwierig wird es vor allem, wenn das keine Phase bleibt.“
Die Informationsquellen für Menschen, die ihre Ernährung in eine bestimmte Richtung umstellen wollen, sind schier unerschöpflich. Um viele Ernährungstrends entwickeln sich ganze Wirtschaftszweige. Vorreiter und Experten verfassen Bücher, vertreiben Zeitschriften, tingeln durch Talkshows und betreiben YouTube-Kanäle und Instagram-Accounts. Was von ihren Aussagen richtig ist und was nicht, kann Otto Normalverbraucher oft gar nicht so leicht beurteilen. Und so treiben viele Umsetzungen angeblicher Tipps und Tricks wundersame Blüten.
Gefährliches Halbwissen
Auch in unserem Spielkreis nahmen die Diskussionen um die richtige Beikost teils absurde Züge an: Dass Klaus Hipp und seine Breigläschen vom Teufel seien, war scheinbar sofort klar. Es müsse auf jeden Fall selber gekocht werden. Am besten mit Biozutaten. Denn das sei natürlich grundsätzlich besser. Und ein Brei, der aus fünf Getreidearten bestehe, werde Babys Magen auf jeden Fall mehr schaden als nur Haferflocken. Mein Mann musste einige Male herzhaft lachen. Funkschmidt: „Bei Kindern wird es besonders extrem. Man denkt, man könne mit der richtigen Ernährung noch ganz viel beeinflussen, und man will ja sowieso alles richtig machen.“ Und auf jeden Fall auch besser als die anderen.
Zum ersten Geburtstag einer der Kleinen wurden Rezepte für den besten Kuchen ausgetauscht. Gewonnen hat am Ende der Kuchen ohne Ei, Milch, Weizenmehl und Zucker. Die Mami, die ihn vorschlug, erwähnte ebenfalls, das verwendete Apfelmus selber herzustellen, damit kein Zucker mehr enthalten sei. Wie sie den Fruchtzucker extrahieren wollte, wurde mir nicht so ganz klar. Höchstens durch einen Gärungsprozess, der aber wiederum bedeutet hätte, dass die Kinder ihren ersten Ehrentag mit ein wenig Alkohol hätten begießen dürfen. Bei uns gab es einen normalen Sandkuchen. Mit Ei. Und Mehl. Und Zucker.