Zwischen stillen Gebeten, flackernden Kerzen und meditativen Gesängen entfaltet sich ein Ort, der jedes Jahr Tausende junge Menschen aus aller Welt anzieht: Taizé. Was macht diese unscheinbare Kommunität in einem französischen Dorf so besonders – und warum berührt sie selbst Atheisten tief im Innersten? Ein Besuch, der vieles infrage stellt – und neue Antworten gibt. Von Jonathan Bühne
Es ist ein kleiner Junge, der mit geweiteten Augen und gleichmäßigen Schritten zwischen den Brüdern in ihren langen, weißen Gewändern einherschreitet, bis er das Osterlicht erreicht hat, das unter dem Kreuz angezündet worden ist. Mit einer sanften Bewegung hält er die Kerze in seiner Hand an das Licht und trägt sie zu dem nächsten Bruder, einem gebeugten Alten, der ihn mit einem rätselhaften Lächeln empfängt und das Licht seinerseits in den Raum hineingibt. Nach und nach brennen hunderte Kerzen auf, während leise Choräle angestimmt werden. Die Kirche hat sich verwandelt, ist durchdrungen von einem strahlenden Licht, das sich in den Glasfenstern spiegelt. Um mich herum sehe ich Hände, die ineinander greifen, Tränenströme, Fremde, die sich in den Armen liegen. Etwas an diesem Ort ist ungeheuer entwaffnend…
Das Modell Taizé ist angesagt
Man wird wohl kaum abstreiten können, dass das Modell Taizé äußerst angesagt ist. Etwa 200.000 Besucher aus fünf Kontinenten empfängt die Kommunität jährlich, hauptsächlich junge Erwachsene zwischen 16 und 29. Die Kommunität selbst besteht aus etwa hundert Brüdern aus 25 Ländern, die sich aus Katholiken, Protestanten und Anglikanern zusammensetzen. Ich treffe in der Woche, die ich dort verbringe, auf Menschen aus verschiedensten Hintergründen: Christen verschiedenster Konfessionen, Agnostiker, Atheisten, aber auch Anhänger verschiedenster New-Age-Strömungen. Einige bleiben für wenige Tage, andere für Monate, die meisten von ihnen kehren immer wieder für kurze Aufenthalte zu diesem Ort zurück, an dem sie für eine Weile gemeinsam leben wollen. Papst Johannes Paul II. sagte 1986 bei einem Besuch in der Communité: „Doch man kommt nach Taizé wie an den Rand einer Quelle. Der Reisende hält an, löscht seinen Durst und setzt den Weg fort.“ Während dieser Gemeinschaft „auf der Reise” teilen die Besucher für die Zeit ihres Aufenthaltes miteinander und mit den Brüdern das kommunale Leben, das diesen Ort ausmacht.
Ein denkbar einfacher Tagesablauf …
Der Tagesablauf in Taizé ist denkbar einfach: gemeinsame Mahlzeiten, praktische Arbeiten auf dem Gelände, Gesprächsrunden und natürlich die weitverbreiteten Taizé-Gebete mit ihren meditativen Gesängen und Zeiten der Stille. Abgesehen von diesen gemeinsamen Zeiten in der „Versöhnungskirche” ist das Leben der Besucher jedoch weitestgehend von dem der Brüder entkoppelt – sofern nicht weiterer Kontakt gesucht wird. Für große Teile des Tages gleicht das Leben in Taizé, diesem abgeschiedenen Dorf inmitten von Weinbergen, eher einem „Bienenstock”, wie der östlich-orthodoxe Theologe Oliver Clément es genannt hat. Einem sehr anspruchslosen Bienenstock, sollte man hinzufügen: überfüllte Schlafsäle, kein Internet, sparsame Mahlzeiten, einfache praktische Arbeiten auf dem Gelände. Was ist es also, dass Taizé zu einem derart attraktiven Ort für junge Menschen macht?
… in einer alternativen Welt
Eine Tschechin, der ich diese Frage stelle, antwortet ohne viel Nachdenken: „Die Gemeinschaft! Ich bin gekommen, um interessante Menschen kennenzulernen!” Tatsächlich taucht dieses Motiv immer wieder in Gesprächen auf: die Abgeschiedenheit des Ortes, die einfache Lebensweise, die teils sehr intensiven Gesprächsrunden, die gemeinsame Arbeit – all das hat einen stark vergemeinschaftenden Charakter, auch weil die Besucher in ihrer konkreten Ausgestaltung der Tage weitestgehend sich selbst überlassen wird. Taizé gleicht einer alternativen Welt, in der Menschen auf eine Art und Weise aufeinandertreffen, die ihnen sonst verwehrt bleibt.
Verzicht auf Rollenerwartungen
Eine Bekannte, die ich zufällig in Taizé antreffe, sagt mir: „Taizé ist ein sicherer Ort, an dem man sich selbst finden kann.” Tatsächlich habe ich noch nie in einer Woche derart viele Menschen öffentlich weinen sehen. Der Philosoph Paul Ricoeur, der Taizé zeitlebens regelmäßig besuchte, schrieb über die Gemeinschaft: „Was mich hier beeindruckt, (…) ist die vollkommene Abwesenheit von Beziehungen, in denen einer über den anderen herrscht.” Dieser Verzicht auf Rollenerwartungen schafft für viele Besucher einen Raum, in dem sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen können.
Was die Gebetspraxis auszeichnet
Und dann ist es natürlich auch die Taizé-Spiritualität, die eine hohe Anziehungskraft ausübt. Die Gebetspraxis der Communauté zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Einfachheit aus: Wortlesungen in mehreren Sprachen, Fürbitten, Zeiten der Stille, Gebete und kurze, wiederkehrende Gesänge, morgens die Darreichung der Eucharistie. Die Wirkmächtigkeit dieser Spiritualität, die auch Nicht-Christen in Massen anzieht, kommt auch daher, dass sie nicht primär „evangelistisch” konzipiert ist. Die Grundidee der Taizé-
Gebete ist nicht, die Besucher von etwas „zu überzeugen”, sondern sie einzuladen in die Lebenswelt der Brüder, in ihr Gebet. Johannes Paul II. beschrieb die Haltung der Gemeinschaft folgendermaßen: „Ihr wisst, dass die Brüder der Communauté euch nicht festhalten wollen. In der Stille und im Gebet möchten sie es euch ermöglichen, vom lebendigen Wasser zu trinken, das Christus verheißen hat, seine Freude zu erfahren, seine Gegenwart zu erkennen, auf seinen Ruf zu antworten, und dann wieder abzufahren, um (..) seine Liebe zu bezeugen und euren Brüdern zu dienen.”
Hier nehmen Reisen ihren Anfang
Es ist wohl diese grundsätzliche Demut der Communauté, ihr Verzicht auf alle Verwendung von Macht, ihre vertrauensvolle Öffnung, die Bescheidenheit ihrer Gaben; die sie auch für eine Generation attraktiv macht, die von einem tiefliegenden Misstrauen gegenüber allen Formen organisierter Religiosität geprägt ist. Vieles ist Taizé vorgeworfen worden: „Wohlfühl-Spiritualität“, fehlende Konfrontativität, Manipulation durch sinnliche Erfahrungen. Und doch lebt die Kommunität trotz aller Widerstände, die ihr über die Jahrzehnte entgegengebracht worden sind. Taizé hat sich nie als das Ende aller Reisen, als die letztgültige Form christlichen Lebens verstanden. Taizé ist der Ort, an dem Reisen ihren Anfang nehmen können – und an dem Menschen zueinander finden können, die sich sonst niemals begegnen würden.