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“Von heute an wird alles anders”

Von: ADVENT VERLAG Datum Beitrag: 24.12.2010 Kommentare: Keine Kommentare Tags:

Eine Geschichte, die wir seit der Kindheit kennen – und doch ist sie kaum zu fassen: Gott lädt ausgerechnet Hirten zur Geburt seines Sohnes ein. Jesus kommt in ihrem Milieu zur Welt: in einem Stall. Dazu eine Auslegung des Bestsellerautors Titus Müller (München).

Joel brach sich ein Stück des runden Gerstenbrots ab und steckte es in den Mund.
Sein Freund Ruben sah über die Schafherde. Er blies sich Luft in die Hände und rieb sie aneinander, um sie zu wärmen. “Das Brot isst du noch? Das ist doch fünf Tage alt!”
Joel kaute. “Neues kostet Geld.” Natürlich hatte Ruben recht. Das Brot schmeckte alt, muffig. Morgen würde es Schimmel ansetzen. “Weizenbrot müsste man essen können, wie die Reichen.”
“Oder Kuchen, hast du mal Zimtkuchen gegessen?”
“Mein Schwager arbeitet im Palast”, sagte Joel, “ich kenne Zimtkuchen.” Bei jedem Wort, das er sprach, standen ihm Dampfwölkchen vor dem Mund. Im Schein des Feuers schimmerten sie silbrig. Sterne übersäten den Himmel. Es war eine von diesen frostigen, endlosen Nächten, die er das ganze Jahr über fürchtete.

Zum Herbstbeginn war er von den Höhen herabgezogen mit der Herde, hier in den Niederungen nahe Bethlehem hatte es noch Gras gegeben. Die Wochen, bevor er die Schafe in ihren Winterstall brachte, gehörten zu den härtesten im Jahr. Joel zog sich den Wollmantel höher zum Kinn hinauf. Er war zu dünn, um die beißende Kälte fernzuhalten.
“Goldschmied müsste man sein, oder Sandalenmacher”, sagte Ruben und lehnte sich auf seinen Hirtenstab. “Das sind Berufe, da verdienst du was. Und du hast Ansehen. Wer will schon einem von uns seine Tochter zur Frau geben? Ich hab’s aufgegeben, sage ich dir, ich heirate nicht mehr.”

“Dafür haben wir was zu erzählen. Was kann so ein Sandalenmacher seiner Frau schon sagen? Wir kämpfen gegen Wölfe, Schakale oder Bären! Das bewundern die Frauen.”
“Unsinn. Wenn dich ein Wolf beißt, bewundert dich keine Frau. Frauen wollen Sicherheit. Ein stinkender Hirte gibt ihr die nicht. Wir sind die Letzten im Volk, die Dummen. Gott hat uns Hirten verlassen, Joel.”
Wahrscheinlich hatte Ruben recht. Sie hüteten den Besitz reicher Leute und wurden jämmerlich bezahlt. “Einen Trost gibt es: Unter uns stehen noch die Sklaven.”
“Ach, die haben’s besser als wir! Die müssen nachts nicht arbeiten. Und sie haben einen richtigen freien Tag in der Woche. Was denkst du, warum man uns für einen Hungerlohn die Schafherden anvertraut? Weil ein Sklave teurer ist als wir. Der kriegt gutes Essen und hat einen Schlafplatz im Haus, und wenn er krank ist, wird er versorgt, das kostet. Wer kümmert sich um uns?”

“Du jammerst wie ein Greis. Kannst dich doch verkaufen als Sklave, wenn dir das lieber ist.”
“Das machen viele”, sagte Ruben, “lach da nicht drüber. Ein alter Freund von mir hat es gerade getan. Ist besser als zu hungern.”
Unruhe entstand unter den Hunderten Schafen. Näherte sich ein Wolfsrudel? Joel, Ruben und die anderen hatten ihre Herden für die Nacht zusammengebracht, damit wenigstens ein paar von den Hirten schlafen konnten. Aber es waren zu viele Tiere. Das Gebiet, das die hüfthohen Mauern umgrenzten, war zu klein für sie. Dass Schafe innerhalb und außerhalb der Mauern ruhten, machte es nicht gerade leicht, sie im Blick zu behalten. Joel kniff die Augen zusammen. Er konnte keinen Schatten sehen und auch nicht ausmachen, wo die Unruhe am stärksten war. “Was ist das …?”
“Nichts, wahrscheinlich. Einer von deinen Böcken hat angefangen zu drängeln, und jetzt schieben sie sich alle.” Ruben stieß ihm die Faust gegen die Schulter..
Am Morgen würde jeder der Hirten aufbrechen und seine Tiere mit lauten Rufen fortführen. Die große Herde würde sich aufteilen, jedes Schaf wusste, welcher Stimme es zu folgen hatte. Wenn nur der Morgen endlich kam! Joel rieb sich die Oberarme. Er fror erbärmlich, und er war müde.

Eine seltsame Stille legte sich über die Schafe. In die Stille hinein meinte er, Musik zu hören, leise, wie von einem entfernten Fest. Er sah sich um. Nirgendwo war eine Festgesellschaft zu sehen.
Plötzlich wurde es hell. Ein Geschöpf erschien vor ihnen, mit prächtigen weiten Flügeln und strahlendem Gesicht. Die anderen Hirten, die geschlafen hatten, schreckten hoch. Joel warf sich zu Boden.
“Habt keine Angst”, sagte das Wesen. “Die Nachricht, die ich euch bringe, ist eine große Freude! Euch ist heute der Retter geboren, der Messias, auf den ihr schon so lange wartet. Geht nach Bethlehem, ihr findet ihn dort: ein Kind in einer Krippe.”
Joel wagte es, kurz den Kopf zu heben. Der Himmel füllte sich mit Abertausenden geflügelter, leuchtender Wesen, und Musik war da, eine Melodie, wie er sie noch nie gehört hatte, vieltönig aus wunderbaren Instrumenten. Die Engel riefen: “Herrlichkeit Gott in der Höhe, und Friede auf Erden den Menschen!”

Vor Freude über die Musik zersprang ihm schier das Herz. Als längst das Licht verschwunden und die Musik verklungen war, lag er noch im Gras und zitterte und weinte und konnte nicht fassen, dass Gott ihn so liebte. Er hatte Engel zu ihm geschickt!
Endlich stand er auf. “Gehen wir nach Bethlehem!”, sagte er. Auch die anderen zitterten. Ihnen liefen Tränen über die Gesichter wie ihm. Sie nickten glücklich, keiner fragte nach den Schafen. Gott, der ein Heer von Engeln gesandt hatte, würde auf sie aufpassen.
Joel hatte immer gehofft, dass es Gott gab. Von Zeit zu Zeit hatte er gebetet, ohne jedoch eine deutliche Antwort zu erhalten. Die Engel zu sehen, überwältigte ihn: Gott musste ihm näher sein, als er die ganze Zeit gedacht hatte.
Wie Kinder liefen sie nach Bethlehem, sie rannten, sie sprangen, sie lachten. “Er hat uns eingeladen, uns!”
Im Ort allerdings blieb Joel verwirrt stehen. Es war still in Bethlehem, er hörte keine Festmusik und keinen Jubel. Wo feierten sie die Geburt des Messias? Irgendwo musste die ausgelassene Menschenmenge sein.
“Hier stehen Kamele”, sagte Ruben, “Wer kann sich goldbestickte Satteldecken leisten? Das müssen wichtige Leute sein, die sind bestimmt zum Messias gekommen. Lass uns da mal nachfragen.” Er klopfte an die Tür, vor der die Kamele angebunden waren. Joel trat neben ihn.
Ein Mann öffnete.
“Wir sind hier”, sagte Joel, “weil wir von der Geburt des Messias gehört haben. Weißt du, wo das Fest -“
“Er schläft”, flüsterte der Mann und legte den Finger auf den Mund. “Kommt herein, aber leise.”
Sie traten in den Stall, fünf schmutzige, glückliche Hirten. Vor einer Krippe hockten fremdländische Männer. Es kümmerte sie nicht, dass sie sich die Seidengewänder mit Ziegenkot befleckten. War dieses Kind …?

Joel sah sich um. Kein rauschendes Fest und keine Menschenmenge von Goldschmieden, Kaufleuten, Königsbeamten oder angesehenen Landbesitzern – ein einfacher Stall. Joel kannte Ställe. Die Tiere, das Stroh, all das war ihm vertraut. Was tat Gott hier? Hier bei ihm? Das Wunder war so unfassbar, dass er kaum wagte zu atmen. Gott feierte die Geburt des Messias, und er hatte sich Hirten dazu eingeladen, mehr noch: Er war zu ihnen gekommen mit dem Retter. In einen Stall.
Kümmerte es Gott nicht, wer wichtig war im Volk und wer nichts zählte? Von heute an, dachte Joel, wird alles anders. (idea)

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