(“Adventisten heute”-Aktuell, 28.3.2014) Das Gesundheitssystem wird immer ökonomischer. Was häufig fehlt, sind Zuwendung, Einfühlungsvermögen und Trost. Das beobachtet der Medizinethiker Professor Giovanni Maio (Freiburg). Er ist einer der Hauptreferenten des 4. Christlichen Gesundheitskongresses vom 27. bis 29. März in Bielefeld. Für zukunftsweisend hält Maio christliche Krankenhäuser. Mit ihm sprach idea-Reporter Karsten Huhn.
idea: Herr Professor Maio, es ist merkwürdig: Einerseits geht es uns so gut wie nie zuvor. Andererseits sind wir unverändert hilflos angesichts von Krankheit und Tod.
Maio: Wir glauben, dass wir unser Leben im Griff haben und verkennen dabei, dass wir die wesentlichen Dinge nicht in unserer Hand haben. Wenn wir krank werden, empfinden wir dies oft als ungerecht und fühlen uns ausgeliefert. Dabei ist Krankheit im Grunde ein Auftrag.
Krankheit ist ein Auftrag?
Wir können es uns nicht aussuchen, ob wir krank werden oder nicht, aber wir können uns die innere Einstellung zur Krankheit aussuchen. Daher ist es wichtig, den Patienten dabei zu helfen, sich der Krankheit eben nicht ausgeliefert zu fühlen, sondern zu entdecken, dass sie viele Ressourcen haben, um auch mit der Krankheit ein erfülltes Leben führen zu können.
Was vielen Ärzten heute fehlt
Wie gut helfen Ärzte, um mit Krankheiten zu Recht zu kommen?
Die Ausbildung der Ärzte ist sehr naturwissenschaftlich und technisch geprägt – und dadurch sehr einseitig. Unsere Ärzte kennen sich sehr gut mit dem Körper, Medikamenten und der neuesten Technik aus, aber viele von ihnen sind im Grunde sprach- und hilflos, wenn sie mit Apparaten und Medizin nichts mehr ausrichten können. Was vielen Ärzten fehlt, ist die Fähigkeit, eine zwischenmenschliche Beziehung zum Patienten aufzubauen, Einfühlungsvermögen zu zeigen, Trost und Hoffnung zu spenden. Dadurch fühlen sich viele Patienten unverstanden und einsam.
“Frau Doktor, muss ich sterben?”
Die Wartezimmer sind voll, Chirurgen arbeiten im Akkord. Viele Ärzte wirken gehetzt und müde.
Unser Gesundheitssystem wird immer ökonomischer. Das führt dazu, dass sich die Arbeitszeit der Ärzte stark verdichtet und kaum noch Zeit für das Zwischenmenschliche, für die Zuwendung und das Gespräch bleibt. Aber diese Entwicklung erklärt nicht alles. Denn Ärzte fühlen sich sicher, so lange sie beschäftigt sind und sie werden oft unsicher, wenn ein Patient fragt: “Frau Doktor, muss ich sterben?” Dann hat der Arzt keine Antwort und flüchtet. Oder er sagt: “Nein, wir machen noch eine Chemo.” So eine Antwort zeigt die Hilflosigkeit. Ein guter Arzt muss lernen, Menschen auf ihr Sterben vorzubereiten, anstatt in Aktionismus zu flüchten, der eben oft nicht hilft, wenn alle Organe ausgefallen sind.
Ärzte sind hoch bezahlte technische Experten. Können die Gespräche am Krankenbett nicht andere übernehmen, etwa Psychotherapeuten und Seelsorger?
Natürlich braucht es diese Unterstützung. Aber gerade ein Arzt sollte sich zu solchen Gesprächen aufgerufen fühlen. Hier der Arzt, der verordnet, dort der Experte für die Beziehungspflege – diese Trennung würde dem Menschen nicht gerecht. Medikamente wirken nur dann, wenn sie innerhalb einer guten Beziehung verordnet werden. Diese Beziehung hat nichts mit Placeboeffekt zu tun, sondern sie ist die Grundlage dafür, dass der Patient Zuversicht empfinden kann und sich nicht aufgibt, sondern sich eben getragen weiß. Wenn ein Patient mit Krebs, Demenz oder Parkinson sich oft die Sinnfrage stellt, so kann der Arzt sich dieser Frage nicht entziehen, weil diese Fragen unweigerlich Begleitumstand einer jeden schweren Erkrankung sind.
Hilft da der christliche Glaube oder ist er nur ein Trostpflaster?
Der christliche Glaube ist eine wertvolle Stütze, die in Krisensituationen viele Menschen trägt. Das belegen inzwischen viele Studien.
Vielleicht sind Christen einfach besser darin, ihr Leid anzunehmen.
Das ist nicht richtig. Das Christentum rät nicht zum Fatalismus, sondern betont die Freiheit des Menschen. Es liegt also in unserer Hand, ob wir an einer Krankheit verzweifeln oder durch die Unterstützung anderer eine positive Einstellung zu ihr finden.
Ein Arzt kann immer Hoffnung spenden
Die Freiheit eines Patienten mit Krebs im Endstadium ist sehr eingeschränkt. Wie kann ein Arzt da noch Hoffnung spenden?
Ein Arzt kann immer Hoffnung spenden! Es gibt keine einzige Situation, die es rechtfertigt, dass ein Arzt Hoffnungslosigkeit predigt. Das Problem ist nur: Viele Ärzte denken, sie könnten nur dann Hoffnung spenden, wenn sie dem Patienten einreden, durch eine weitere Behandlung ließen sich noch Wochen, Monate oder Jahre gewinnen. Das Hoffnung-Haben braucht aber nicht allein gebunden bleiben an die Hoffnung auf mehr Lebenszeit. Der Mensch kann auch dann Hoffnung haben, wenn er das Gefühl hat, in seiner Not verstanden und begleitet und nicht alleingelassen zu werden.
Dennoch wirkt ein Arzt wie ein moderner Sisyphos: Er kämpft gegen alle Arten von Krankheiten an – und verliert am Ende doch.
Es kommt darauf an, wie wir “verlieren” verstehen. Wenn nur die Heilung als Erfolg zählt, sind die meisten Behandlungen sinnlos. Der eigentliche Sinn ärztlicher Behandlung ist aber nicht allein die Heilung, sondern das Da-Sein, das Sich-Solidarisieren mit dem Kranken. Das ist ein Wert an sich, ein Wert, der heilsam werden kann, weil durch diesen Beistand der Kranke befähigt werden kann, eine neue lebensbejahende Einstellung zu gewinnen. Es ist die Sorge um den Anderen, die den Kranken aufwertet und ihn gerade nicht verzagen lässt. Es geht also um den Ausdruck der Wertschätzung für den Kranken. Das ist der zentrale Gehalt ärztlicher Sorge. Und deswegen sind die Debatten um den assistierten Suizid gefährlich. Denn mit der Befürwortung der ärztlich unterstützten Selbsttötung unterstützt man nur den Eindruck des Patienten, er sei nichts mehr wert. Ein Arzt muss eine stark bejahende Lebenseinstellung verinnerlicht haben, damit er dem Patienten vermitteln kann, dass sein Leben selbst bei schwerer Krankheit wertvoll ist – selbst dann, wenn nur noch Blickkontakt, ein Händedruck oder eine Berührung möglich sind.
Warum die Heilberufe umdenken müssen
Die von Ihnen geforderte Beziehungspflege kann bei den Krankenkassen nicht abgerechnet werden.
Von den Krankenkassen bezahlt wird, was gemessen und in Leistungskatalogen abgebildet werden kann – das ist aber nur ein kleiner Teil dessen, was von Ärzten an Hilfe geleistet werden kann. Ich denke, wir brauchen ein Umdenken für die Heilberufe: Der eigentliche Wert ist das, was sich zwischen Menschen ereignet. Genau das ist der Grund, warum viele Ärzte und Pflegende demotiviert und frustriert werden: Sie werden nach Kriterien bewertet, die ihnen als Helfer gar nicht so wichtig erscheinen. Ihr eigentliches Bestreben ist es, für Menschen da zu sein.
Geholfen wird nur dann, wenn es sich wirtschaftlich lohnt
Der Arzt ist heute vor allem Gesundheitsmanager, der Fallpauschalen kalkuliert und das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer Behandlung berechnet.
Die Medizin hat ein völlig neues Denken etabliert: Ärzte haben gelernt, Patienten nicht allein nach ihrer Not zu betrachten, sondern welchen Ertrag sie versprechen. Geholfen wird heute nur noch dann, wenn es sich wirtschaftlich lohnt. Dieses Denken hat den Auftrag der Medizin auf den Kopf gestellt. Es richtet sich gegen den Ethos der helfenden Berufe und führt zu deren Sinnentleerung. Das dürfen wir nicht zulassen!
Die Gesundheitsausgaben in Deutschland liegen bereits bei knapp 300 Milliarden Euro jährlich – rund 3.600 Euro pro Kopf. Ihre Forderungen laufen darauf hinaus, dass die Ausgaben noch stärker steigen.
Auf keinen Fall! Wir haben nicht das Problem, dass wir zu wenig Geld ausgeben, sondern dass wir es für die falschen Dinge ausgeben. Unser System schafft Fehlanreize: Belohnt werden Ärzte und Krankenhäuser, die viel Technik anwenden, viel operieren und Patienten so schnell wie möglich entlassen. Belohnt werden also Ärzte, die nicht in erster Linie nach dem ärztlichen Ethos handeln, sondern nach rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Erlösorientierung ist aber nicht deckungsgleich mit guter Versorgung.
Es wird mittlerweile zu viel operiert
Einst galt: “Erst das Wort, dann die Pflanze, zuletzt das Messer.” Heute scheint es umgekehrt zu sein: Es wird so viel operiert wie nie zuvor.
Wir erleben, dass das Wort abgewertet wird. Ärzte und Pfleger sollen vom Systemdenken her austauschbar gemacht werden. Sie werden nicht als Persönlichkeiten betrachtet, sondern als “Leistungserbringer” – so werden sie von den Krankenkassen bezeichnet. Ärztliches Handeln ist aber weit mehr als das Erbringen einer Leistung. Es hat mit Vertrauen und Menschlichkeit zu tun. Wenn wir dagegen die Medizin so lassen, wie sie jetzt ist, wird sie eine Vergleichgültigung salonfähig machen und sukzessive authentische Zwischenmenschlichkeit durch fassadenartige Kundenfreundlichkeit ersetzen.
“Viele Leute werden von ihrem Arzt gekränkt”, beobachtet der Schweizer Gesundheitsökonom Gerhard Kocher. Und weiter: “Ärzte behandeln immer mehr ohne Ansehen der Person.”
Das ist das Problem der modernen Medizin. Sie hält Ausschau nach Fakten, aber übersieht die Person. Wir werden einem Patienten aber nur gerecht, wenn wir den ganzen Menschen wahrnehmen.
In Ihrem Lehrbuch “Mittelpunkt Mensch. Ethik in der Medizin” zitieren Sie den Philosophen Platon (427-347 vor Christus): “Denn das ist der größte Fehler bei der Behandlung der Krankheiten, dass es Ärzte für den Körper und Ärzte für die Seele gibt, wo doch beides nicht getrennt werden kann – aber das gerade übersehen die Ärzte, und nur darum entgehen ihnen so viele Krankheiten, sie sehen nämlich niemals das Ganze.”
Das ist auch heute so. Wir haben eine solche Spezialisierung und Aufteilung in Unterdisziplinen in der Medizin, dass der Mensch als Ganzes eigentlich gar nicht mehr wahrgenommen wird.
Was wichtiger ist als das Röntgenbild
Ist die Spezialisierung nicht ein Segen? Ich lasse mich doch lieber von einem Herzchirurgen am Herz operieren als von einem Allgemeinmediziner.
Wir verdanken der Spezialisierung natürlich viele Erfolge. Aber sie kann nur dann glücken, wenn wir durch die Spezialisierung hindurch wieder zu integrativem Denken zurückfinden. Bevor ich zum Beispiel jemanden zu einer Rückenoperation rate, muss ich ihn als Menschen wahrnehmen: Welche Arbeit übt er aus? Wie lebt er? Was erwartet er von einer Operation? Wie geht er mit Schmerzen um? Erst wenn ich das alles weiß, kann ich eine Operation empfehlen – oder aber davon Abstand nehmen. Allein das Röntgenbild oder die Computertomographie hilft mir bei so einer Entscheidung nicht. Deshalb darf ein Arzt nicht nur Spezialist sein, sondern muss sich zuständig fühlen für die Geistes- und Lebenswelt des Patienten.
Als Ethik-Spezialist werden Sie von Krankenhäusern häufig angefragt, um bei kniffligen Entscheidungen zu helfen. Was war die unangenehmste Situation, über die Sie nachdenken mussten?
Besonders schwierig sind Situationen, in denen die Bedrängnis der Situation keinen Raum für einen besonnenen Reifungsprozess der Entscheidung lässt. Einmal wurde ich zu einem Landwirt gerufen, der nach einem Traktorunfall querschnittsgelähmt war und nichts mehr bewegen konnte. Die Lähmung ging allmählich auch auf die Atemmuskulatur über. Das Krankenhaus schlug vor, ihn vorübergehend künstlich zu beatmen. Der Landwirt lehnte das ab: “Wenn ich künstlich beatmet werden muss, möchte ich lieber gleich sterben.”
Wozu haben Sie geraten?
Natürlich muss man den Patientenwillen respektieren. Aber der Unfall war erst vor 24 Stunden geschehen und der Landwirt stand noch unter Schock. Kann man in so einem Moment eine solche folgenschwere Entscheidung treffen? Mir war es wichtig, hier Zeit zu gewinnen, damit der Patient sich erst einfinden kann in diese neue Situation und den Angehörigen die Gelegenheit gegeben wird, dem Patienten zu signalisieren, wie viel er ihnen bedeutet, auch dann wenn er gelähmt wäre. Schwierige ethische Probleme lassen sich durch Entschleunigung oft entschärfen. Man muss kreative Wege finden, um nicht in der Situation größter Bedrängnis entscheiden zu müssen, weil dies Entscheidungen sind, die später oft wehtun.
Wie ist die Geschichte ausgegangen?
Leider hat sich der Landwirt die Zeit nicht nehmen wollen und man hat ihn sterben lassen. Mich beschäftigt dieser Fall bis heute sehr.
Wenn ein Mensch zum Pflegefall wird
Viele Menschen plagt die Horrorvorstellung, dass sie zum Pflegefall werden, nicht mehr selbst entscheiden können und von den Ärzten lebensverlängernde Maßnahmen über sich ergehen lassen müssen und dahinvegetieren, ohne sich dagegen wehren zu können.
Leider ist diese Sorge zum Teil berechtigt. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass Ärzte so reflektiert und besonnen wie nur möglich mit den Patientenschicksalen umgehen. Im Umgang mit Leben und Tod darf es keine Automatismen geben. Leider fallen immer noch viele Ärzte unrealistischen Machbarkeitsvorstellungen zum Opfer. Wir bräuchten in den Krankenhäusern eine viel größere Scheu, Technik anzuwenden. Wir brauchen eine Ethik der Besonnenheit, also eine Medizin, die weitsichtig denkt und weise Ratschläge erteilt. Ärzte müssen eine neue Demut lernen: Sie sind eben nicht die Hersteller von Gesundheit und die Herren über den Tod, sondern sie sind Diener des Patienten. Man muss lernen, die Grenzen des Machbaren als sinnvolle Grenzen anzuerkennen.
Was können die Kirchen tun, um Kranken das Leben zu erleichtern?
Die Kirchen und Gemeinden sollten festhalten an ihrem sozial-karitativen Auftrag. Sie sollten unbedingt die Trägerschaft von Krankenhäusern, Alten-, Behinderten- und Pflegeheimen behalten. Für mich stellen gerade die konfessionellen Einrichtungen die Zukunft der Medizin dar. Sie bieten genau das, was an vielen Orten verloren geht: Die Möglichkeit für die Mitarbeiter, sich mit den großen Zielen der Einrichtungen innerlich zu identifizieren. Zum Beispiel ist das Motto der Malteser “Weil Nähe zählt”. Die Malteser gibt es schon seit über 900 Jahren – weil sie sich nicht der Ãkonomie, sondern der Caritas, der Nächstenliebe, verschrieben haben. Sie wertschätzen das Leben, von seinem Anfang bis zum Ende. Für sie ist Krankheit und Sterben keine Katastrophe, sondern ein Ausdruck des Menschseins. Das spüren die Patienten. Deshalb sind die christlichen Krankenhäuser für mich ein Fels in der Brandung und von ihrer Identität her zukunftsweisender denn je.
Vielen Dank für das Gespräch!
Giovanni Maio (49) studierte Philosophie und Medizin. Seit 2005 ist er Professor für Bioethik, seit 2006 Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Uni Freiburg, und Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Ethik-Zentrums Freiburg. Er berät das Bundesforschungsministerium, die Bundesärztekammer und die (katholische) Deutsche Bischofskonferenz in Grundsatzfragen. 2013 erschien von dem katholischen Christen das Buch “Mittelpunkt Mensch. Ethik in der Medizin” (Schattauer Verlag, Stuttgart). (idea)