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Von Luther lernen – Vier Anregungen des Reformators für die Gegenwart

Das Reformationsjubiläum von 2017 hält für alle, denen die reformatorische Botschaft am Herzen liegt, eine gute Nachricht bereit: Martin Luther fasziniert noch heute. (Foto: Michael F. Schroth/churchphoto.de)

Am 31. Oktober erinnern Protestanten in aller Welt an den Beginn der Reformation durch die Veröffentlichung der 95 Thesen von Martin Luther im Jahr 1517 an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Der Theologe und Historiker Benjamin Hasselhorn erläutert, warum die Botschaften des Reformators heute noch wichtig sind und was Christen von ihnen lernen können.

Welche Bedeutung hat Martin Luther 2021 noch – 500 Jahre nach seinem berühmten Auftritt vor dem Wormser Reichstag und 504 Jahre nach dem Thesenanschlag in Wittenberg? Das Reformationsjubiläum von 2017 hält für alle, denen die reformatorische Botschaft am Herzen liegt, eine gute Nachricht bereit: Martin Luther fasziniert noch heute. Von ihm kann man nach wie vor viel lernen; sei es für das eigene Glaubensleben, sei es für gesellschaftliches Engagement und Zusammenleben. Vier Anregungen Luthers scheinen mir besonders wichtig zu sein:

1. Selbst Verantwortung übernehmen

Über die Frage, wann Martin Luther eigentlich zum Reformator geworden ist, wird bis heute debattiert. Manche sehen die „reformatorische Wende“ Luthers in seinem legendären „Turmerlebnis“ (dessen realhistorische Faktizität von anderen bestritten wird), andere im Thesenanschlag am 31. Oktober 1517, wieder andere noch später, nämlich in den sogenannten „reformatorischen Hauptschriften“ des Jahres  1520. Besondere Aufmerksamkeit hat in der jüngeren Reformationsforschung Luthers Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ erhalten. Darin nämlich wird der Grundstein gelegt für einen zentralen Aspekt der reformatorischen Botschaft, das Priestertum aller Getauften.

Als Christen sind wir durch die Taufe alle Priester; einen qualitativen Unterschied zwischen Klerus und Laien gibt es nicht. In die Gegenwart übersetzt könnte das heißen: Jeder Einzelne ist für seinen Glauben selbst verantwortlich. Wir können die Verantwortung nicht einfach auf die Kirchenobrigkeit abwälzen, die alles richten soll, sondern können stattdessen dort, wo wir Einfluss haben, unseren Einfluss zum Positiven geltend machen. Sei es bei der Weitergabe religiöser Tradition, sei es bei der Verankerung des Glaubens im Alltag – niemand hindert uns daran, in unserm eigenen Umfeld entsprechend zu wirken. Für Protestanten bleibt es dabei, dass die äußere Kirche, die Institution, wichtig, aber nicht alles ist. Entscheidend ist vielmehr nicht der Zustand der Kirche, sondern die Beziehung des Einzelnen zu Gott. Von Luther lernen, das könnte bedeuten, zu erkennen, dass wir selbst für das verantwortlich sind, was in unserem Leben Gewicht hat. Die Kirche als Institution nimmt uns diese Verantwortung nicht ab.

2. Auf Gnade setzen

In seiner Rede zur Eröffnung des Reformationsjubiläums im Oktober 2016 verwies der damalige Bundespräsident Joachim Gauck auf die Bedeutung der Gnade in Luthers Denken. Die Pointe seiner Rede war, dass wir gerade heute Gnade ziemlich gut gebrauchen können – in einer Welt, die von zunehmender Gnadenlosigkeit und Unversöhnlichkeit geprägt ist.

Diesen Aufruf kann ich nur voll unterstützen. Und hinzufügen, dass genau an dieser Stelle die Menschenfreundlichkeit dessen deutlich wird, was nicht nur die lutherische, sondern die gesamte christliche Tradition als Sündenlehre kennt. Im ersten Moment mag diese Behauptung irritieren, sind wir es doch meist gewohnt, in der christlichen Sündenlehre, möglicherweise gar in Gestalt der „Erbsünde“, ein Relikt aus  finsteren Zeiten zu erblicken, eines der zahlreichen Machtmittel der alten Kirche, mit denen die Gläubigen in Angst und Schrecken kleingehalten wurden – und von denen die Reformation uns doch befreit hat.

Aber so einfach ist es nicht. Sicher lässt die Sündenlehre sich missbrauchen, aber ihr Kern ist zutiefst menschenfreundlich – gerade indem sie uns klarmacht, dass wir nicht aus uns selbst heraus gut sein können. Das Menschenfreundliche an dieser Lehre ist, dass sie uns verdeutlicht, dass wir alle im selben Boot sitzen. Wenn ich die Auffassung teile, dass ich und alle meine Mitmenschen Sünder sind, dann hat das ganz konkrete, auch gesellschaftspolitisch bedeutsame Folgen: Ich werde mich dann davor hüten, menschlichen Heilsbringern zu folgen, ich werde mich auch selbst – meiner eigenen Fehlbarkeit bewusst – nicht zum Heilsbringer aufschwingen. Und ich werde mich davor hüten, meinen politischen oder weltanschaulichen Gegner als schlechthin böse und damit als Feind anzusehen. Die Sündenlehre ist, wenn man sie recht versteht, eine Lehre, die zu Demut und Versöhnlichkeit aufruft. Und nur mit der Sündenlehre wird die von uns allen so dringend benötigte Gnade nicht zur „billigen Gnade“ (Dietrich Bonhoeffer), die wirkungslos verpufft, weil ihr die falsche Idee zugrunde liegt, dass wir alle schon irgendwie gut seien. Gerade wenn ich dieser falschen Idee anhänge, werde ich zur Unversöhnlichkeit gegenüber denen neigen, die sich aus meiner  Sicht nicht gut verhalten. Die eigentliche Pointe der Sündenlehre aber ist, dass niemand von uns rein gut ist, dass wir deshalb alle angewiesen sind auf Gottes Gnade.

3. Auf Gott vertrauen

Als Dreijähriger war ich fest davon überzeugt, dass Gott auf mich aufpasst, egal was passiert. Das führte dazu, dass ich, ohne links und rechts zu schauen, über die Straße lief. Zum Glück haben die Autos rechtzeitig gebremst. Aber seitdem weiß ich, dass es mit dem Gottvertrauen eine komplizierte Sache ist. Gott ist nämlich nicht einfach nur der „liebe Gott“, der immer alle Dinge harmonisch zum Besten kehrt. Würden wir das glauben, wie erklären wir uns dann all die ganz und gar nicht harmonischen Dinge, die wir tagtäglich erleben? All die Krisen, Kriege, Gewalt, Krankheit, Streit, Hass und Unehrlichkeit?

Bei Luther kann man einen anderen Gott kennenlernen: den gnädigen, nicht den lieben Gott. Und man kann ein anderes Gottvertrauen lernen: eines, das darin besteht, gegen jede Erfahrung und rationale Wahrscheinlichkeit, trotz aller Krisen und allen Leids darauf zu vertrauen, dass Gott das Beste für uns will. „Du kannst nicht tiefer fallen als bis in Gottes Hand“, heißt es in einem Kirchenlied, und das ist nach christlicher Überzeugung absolut wahr. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Gott zuweilen „einen harten linken Haken“ (Popmusiker Peter Fox) hat und uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint. Luther  schreibt, dass Gott immer wieder sein „Nein“ über uns und unsere Existenz spricht. Lutherisches Gottvertrauen bedeutet, das nicht zu ignorieren, zugleich aber auch darauf zu vertrauen, dass Gott uns letztlich wohlgesonnen ist, dass er, wie Luther weiter schreibt, „unter und über dem Nein“ „das tiefe heimliche Ja“ zu uns spricht.

Dieses Gottvertrauen ist nicht wohlbegründet, unsere Erfahrung widerspricht ihm. Luther setzt alles auf das Evangelium, auf die Frohe Botschaft von Gottes Zuwendung zu den Menschen, die er in der Bibel findet. Und von der er überzeugt ist, dass sie es ist, die uns erst dazu befähigt, über uns hinauszuwachsen.

4. Das Verbindende suchen

Es gibt eine Reihe von Anzeichen dafür, dass in den westlichen Gesellschaften die Polarisierung in gegnerische, tendenziell verfeindete Lager zunimmt. Die Kirchen sind davon leider nicht ausgenommen. Dabei haben sie hier die große Chance, auch politisch heilsam zu wirken, etwa indem sie zur Geltung bringen, dass sie zu den letzten verbliebenen Institutionen gehören, in denen Menschen  zusammenkommen, die völlig verschiedene politische, weltanschauliche, soziale und lebensgeschichtliche  Hintergründe haben; zusammenkommen, weil sie etwas verbindet, das wichtiger ist als diese Unterschiede.

„Wo ein Staatswesen ist, da geschieht ein Wunder“, schreibt Luther und betont damit, welch großes Glück ein leidlich funktionierendes Gemeinwesen ist und wie leicht das Gemeinwesen auseinanderbrechen kann. Im Bauernkrieg 1524/25 hat Luther das selbst erlebt. Für seine Parteinahme gegen die Bauern wird er bis heute stark kritisiert. Das ist angesichts unverhohlener Aufrufe an die Fürsten, größtmögliche Gewalt gegen die aufständischen Bauern zu üben, auch verständlich und berechtigt. Luthers grundsätzliche Argumentation aber verdient auch heute noch Gehör: Gewaltsamer Aufruhr gegen die öffentliche Ordnung, so Luther, ist nie gerechtfertigt. Man muss das nicht so absolut setzen wie Luther, um dem Gedanken etwas abzugewinnen. Denn natürlich ist jede Zerstörung der bestehenden Ordnung gefährlich, weil etwas abgerissen wird, ohne dass klar ist, ob man in der Lage ist, etwas Besseres aufzubauen. Und das Paradoxe ist, dass das Aufbegehren gegen die öffentliche Ordnung umso gefährlicher ist, je höher und heiliger die Ziele sind, in deren Namen man aufbegehrt. „Die Welt nach dem Evangelio regieren“, so Luther, „hieße, die wilde Bestie loszulassen.“ Wer meint, das schlechthin Gute zu vertreten, steht besonders in der Gefahr, für die Durchsetzung der eigenen Ziele moralische Grundsätze über Bord zu werfen.

Von Luther lernen könnte hier bedeuten, die eigene Verantwortung für die Bewahrung des Gemeinwesens ernst zu nehmen. In einer sich immer stärker polarisierenden Gesellschaft würde das beispielsweise heißen, Brücken zu bauen und Verbindendes zu suchen.

Wir haben es selbst in der Hand

Diese vier Anregungen Luthers für die Gegenwart beziehen sich sämtlich auf das Individuum. Lutherische Existenz ist nun einmal zuerst individuelle Existenz. Damit ist eine hohe Anforderung verbunden, aber auch ein Trost: Denn wir haben selbst in der Hand, welche Bedeutung Christus in unserem Leben hat, und wir haben selbst in der Hand, evangelische Prinzipien in der Gesellschaft zur Geltung zu bringen.

Der Autor, Benjamin Hasselhorn, ist Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.


Kommentare
  • Fünf Ideen, von Bruder Martin zu lernen

    Ganz herzlichen Dank für die Veröffentlichung dieser Gedanken von Herrn Hasselhorn. Nicht bloß für Protestanten beherzigenswert, sondern für alle Christen. Und vielleicht ein Ansatz, über Menschen anderer Religionen über das Christ-Sein und über das Evangelium zu erzählen.

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