("Adventisten heute"-Aktuell, 29.3.2013) So erfreulich die Renaissance der Religionen ist, desto bedenklicher ist die Radikalität, mit der fundamentalistische Strömungen auftreten. Diese Ansicht vertrat der Historiker Prof. Wolfgang Wippermann (Berlin) auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt zum Thema "Die Glaubenswächter - Christlicher Fundamentalismus in Deutschland". Sie fand vom 22. bis 24. März in der Lutherstadt Wittenberg statt. Wippermann zufolge gibt es fundamentalistische Bewegungen in allen Religionen. Er warnte vor einer Eingrenzung auf den islamischen Fundamentalismus. Das wäre "absolut falsch und eine Beleidigung der islamischen Religion".
Der Historiker charakterisierte Fundamentalismus als "eine Ideologie, durch die Religion politisiert und Politik sakralisiert wird". Kennzeichnend für die Anhänger solcher Strömungen sei eine verbreitete Intoleranz. Wer aber Demokratie ablehne, die Gleichheit aller Menschen leugne oder zur Gewalt gegen Andersgläubige aufrufe, "ist nicht zu akzeptieren" und müsse "bekämpft" werden, so Wippermann. Fundamentalismus mache Völker nämlich nicht schläfrig wie Opium - so hatte der Philosoph Karl Marx (1818-1883) die Religion genannt -, sondern mache sie "aggressiv wie Crack oder Ecstasy". Sollte es nicht gelingen, fundamentalistische Strömungen zu überwinden, dann könnte das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Fundamentalismen werden - so wie das 20. ein Jahrhundert der Ideologien gewesen sei.
EZW: Die meisten Evangelikalen in Deutschland nicht fundamentalistisch
Der Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), Pfarrer Reinhard Hempelmann (Berlin), mahnte eine Differenzierung des Begriffs "fundamentalistisch" an. Die evangelikale Bewegung in Deutschland könne nicht pauschal mit Fundamentalisten gleichgesetzt werden. Der Hauptstrom der Evangelikalen hierzulande sei nicht fundamentalistisch. Wenn in Deutschland im herkömmlich kirchlich-theologischen Sprachgebrauch von Fundamentalisten die Rede sei, werde damit vor allem ein bestimmtes Bibelverständnis bezeichnet, das von der Verbalinspiration der Schrift ausgehe. Wie Hempelmann weiter sagte, werden fundamentalistische Tendenzen in dem Maße wachsen, wie ein "unverbindlicher und weicher Beliebigkeitspluralismus zunimmt".
Um die Faszination zu verstehen, die fundamentalistische Bewegungen auf manche Menschen ausübten, müsse man nur die moderne Welt mit ihrer Optionsvielfalt anschauen. Denn Modernisierungsprozesse bedeuteten immer auch einen Verlust an Sicherheit und Gewissheit. Fundamentalismus verspreche hingegen Eindeutigkeit. Hempelmann: "Er setzt der modernen Kultur des Zweifels eine feste Position entgegen und protestiert gegen Kompromisse mit dem Zeitgeist." Fundamentalismus sei damit eine Art "Gegenmoderne". Kritik übte er daran, dass vor allem in den Medien zunehmend jede Form religiöser Hingabe unter Fundamentalismusverdacht gestellt werde.
Kirchenpräsident: Kein Fundamentalismus - "viel Gleichgültigkeit"
Der Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche Anhalts, Joachim Liebig (Dessau), erklärte, dass es in seiner Kirche keine fundamentalistischen Strömungen gebe. Das habe allerdings nichts mit "übergroßer Toleranz" zu tun, sondern "leider viel mit Gleichgültigkeit". Als Kirchenpräsident sei ihm an der Einheit der Kirche gelegen, so Liebig. Für ihn sei jedoch eine Grenze erreicht, wenn sich Christen gegenseitig die Bekenntnistreue in Abrede stellten, wie das in der Debatte um die Öffnung des Pfarrhauses für gleichgeschlechtliche Partnerschaften in der sächsischen Landeskirche zum Teil geschehe. Auch bei Themen wie Rassismus oder Homophobie stehe für ihn die Einheit der Kirche auf dem Spiel: "Da würde ich mich weit aus dem Fenster lehnen."
Gewinnen Fundamentalisten im Katholizismus an Bedeutung?
Der Theologe und Philosoph David Berger (Berlin) kritisierte, dass in den vergangenen Jahren fundamentalistische Gruppen unter dem Dach der katholischen Kirche an Bedeutung gewonnen hätten. So verträten beispielsweise besonders junge Priester vielfach extreme Ansichten. Auf dem inzwischen verbotenen Internet-Portal kreuz.net hätten sich "Priester aus der Mitte der Kirche" engagiert. Der Journalist Peter Hertel (Ronnenberg bei Hannover) gab einen Einblick in fundamentalistische Strömungen im Katholizismus. Die zwei größten und einflussreichsten seien "Opus Dei" sowie "Communione e Liberatione". Beide engagierten sich auch in Deutschland. Sie verfolgten nicht nur kirchliche Ziele, sondern versuchten, auch politisch Einfluss auszuüben. Nach Hertels Worten hat Papst Franziskus Kontakte zu beiden Bewegungen. Der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke äußerte sich zur Debatte um Homosexualität. Er persönlich trete dafür ein, dass auch gleichgeschlechtliche Paare gesellschaftlich anerkannt würden und Rechtssicherheit bekämen. Dennoch sei die "eigentliche Form der Sexualität die zwischen Mann und Frau". Deswegen sollten homosexuelle Beziehungen auch nicht der Ehe gleichgestellt werden. (idea)