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Mit dem Radl in die Kirche

In Deutschland gibt es etwa 45.000 Kilometer Radwege, die rege genutzt werden. (Foto: Matthias Mueller/ churchphoto.de)

Etwa 45.000 Kilometer Radwege gibt es in Deutschland. Entlang der Routen liegen unzählige Kirchen. Rund 350 von ihnen sind als spezielle „Radwegekirchen“ ausgewiesen und werden immer öfter besucht: Eine Luftpumpe, eine Bank zum Ausruhen, einen stillen Ort – mehr braucht das Radfahrerherz nicht. Ein Bericht von IDEA-Reporterin Julia Bernhard

Heute ist kein Tag zum Fahrradfahren, nein, wirklich nicht. Ein feiner Nieselregen geht unaufhörlich über dem Lahntal nieder. Es ist kühl, fast ein wenig herbstlich. Aber es gibt sie: Zwei Mutige auf ihren Drahteseln, eingepackt in Regenponchos, Satteltaschen links und rechts, passieren das Ortseingangsschild des mittelhessischen Dörfchens Bellnhausen im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Direkt unterhalb des Ortsnamens gibt die evangelische Kirchengemeinde bekannt, dass ihre Kirche jeden Tag für Besucher geöffnet ist. Ob die beiden Radler die Einladung wahrgenommen haben? Es wäre eine Möglichkeit, sich für einen Moment unterzustellen, etwas trocken zu werden – vielleicht auch, um innerlich aufzutanken.

Das Radfahren boomt

Das kleine Kirchlein, das innen liebevoll mit verschiedensten Medaillons und Bauernmalereien verziert ist und in seinen ältesten Teilen auf das 13. Jahrhundert zurückgeht, ist seit dem vergangenen Jahr offiziell Radwegekirche. Denn Bellnhausen liegt direkt am Lahnradweg. Für gewöhnlich, sagt Sabine Klatt, die Vorsitzende des Kirchenvorstandes, wird das Gotteshaus, das mitten in dem 460-Seelen-Dörfchen auf einem Felsvorsprung thront, vor allem deshalb von Radfahrern besucht, weil es hier schön kühl ist. Aber dieser Sommer ist bislang keiner. Klatt ist dennoch zuversichtlich. Dann kommen sie eben, um sich unterzustellen. Seitdem die Kirche im Rahmen eines kleinen Festgottesdienstes offiziell als Radwegekirche ausgezeichnet wurde, haben schon viele Menschen auf ihren Drahteseln den Weg hierher gefunden. Der Lahnradweg ist für gewöhnlich gut frequentiert: junge Pärchen auf Mountainbikes, Familien mit Kindern im Anhänger, Menschen mittleren Alters auf den immer häufiger zu beobachtenden E-Bikes.

Fahrradfahren boomt: Es ist umweltfreundlich, es ist eine bewusste Art der Fortbewegung, man findet Ruhe in der lauten Gegenwart und tut dabei noch etwas für seinen Körper. Allein 2019 machten 5,4 Millionen Deutsche eine Radreise mit mehr als drei Übernachtungen. Rund 79,1 Millionen Fahrräder gibt es hierzulade. Bedingt durch die Pandemie ist der Absatz im letzten Jahr noch einmal deutlich angestiegen. Das Fahrrad ist zum Lebensgefühl geworden. Und die Radler genießen Umfragen zufolge vor allem die unkomplizierte Möglichkeit, einfach und jederzeit anzuhalten, abzusteigen, sich umzusehen. Außerdem legen verschiedene Erhebungen nahe, dass Urlauber offen sind für neue Begegnungen – auch mit Gott. Die Spiritualität geht neue, indirektere Wege. Eine Chance für die Kirchen am Wegesrand, die die Evangelische Kirche in Deutschland durchaus erkannt hat: naturnahen Tourismus fördern als Auftrag zur Erhaltung der Schöpfung sowie ein niedrigschwelliges geistliches Angebot schaffen.

Es könnte noch bekannter sein

Im gesamten Bundesgebiet gibt es inzwischen rund 350 Radwegekirchen. 2001 wurde die Johanniskirche im Klosterpark Reinhardsbrunn in Thüringen offiziell als erste solche ausgewiesen. Seit 2009 verleiht die EKD ein leuchtend grünes Signet als einheitliche Kennzeichnung. Wer es haben möchte, muss – selbstverständlich – in unmittelbarer Nähe eines Radweges liegen. Die Kirche muss außerdem von Ostern bis zum Reformationstag tagsüber offen sein sowie als geistlicher Raum fungieren. „Dass wir diese Kriterien alle erfüllen, ist uns erst aufgefallen, als wir uns um eine Versicherung kümmern mussten, weil unsere Kirche ohnehin schon seit längerer Zeit tagsüber frei zugänglich ist“, erzählt Sabine Klatt. Die Kirchenverwaltung der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck wies die Diakonin darauf hin, dass man das Kirchlein ganz unkompliziert als Radwegekirche auszeichnen könne, und gab Hilfestellung bei der Umsetzung: „Wir sind also zur Fahrradkirche wie die Jungfrau zum Kinde gekommen. Wir selbst hätten das nicht gewusst!“ Am gesamten Lahnradweg, der immerhin 245 Kilometer lang ist, gibt es nur fünf ausgezeichnete Radwegekirchen. Sabine Klatt ist überzeugt, die meisten Gemeinden, die an bekannten Radwegen liegen, wüssten nicht, dass sie hier eine Chance hätten. Sie könnten Vorbeifahrenden die Kirche öffnen, ihnen die Geschichte des sakralen Ortes näherbringen und Interesse für das Religiöse, das Kirchliche vielleicht auch langfristig wecken. Die Bellnhäuser Gemeinde habe bereits erlebt, dass Menschen, die nur als kurzfristige Gäste auf dem Gelände waren, später mal zum Gottesdienst gekommen seien.

Flickzeug und Gotteserfahrung bei Gelegenheit

„Die meisten suchen allerdings das Unverbindliche, einen Ort, um zur Ruhe zu kommen und Ausgleich zu finden“, erklärt Klatt. Sie wollten sich nicht gezwungen fühlen, an einem Gottesdienst teilzunehmen oder mit irgendwem ins Gespräch kommen zu müssen. „Wir als offene Kirche sehen unsere Aufgabe darin, da zu sein, wenn wir gebraucht werden. Wir möchten einen Raum anbieten, der für jeden bereitsteht, um sich Gott nah zu fühlen oder einfach nur da sein zu dürfen.“ Wer möchte, findet deshalb neben dem Picknicktisch auf dem Außengelände und dem obligatorischen Flickzeug im Eingangsbereich kleine Karten mit Bibelzitaten zum Mitnehmen. „Die werden gern eingesteckt“, freut sich Klatt. Außerdem hat jeder die Möglichkeit, seine Fürbitten, Gedanken und Wünsche in das ausliegende Anliegenbuch zu schreiben. Die Dankbarkeit für eine geöffnete Kirche spricht tatsächlich aus fast allen Eintragungen. „Das ist für uns eine wunderbare Bestätigung. Gerade in dieser Corona-Zeit ist es wichtig, dass Orte wie Kirchen offen haben für Begegnungen.“

Die beiden wetterfesten Radler sind bislang nicht in der winzigen Kirche angekommen. Gerade ist es trocken draußen. Vielleicht sind sie schnell weitergefahren, um vor dem nächsten Schutt anzukommen. Vorne in der ersten Bank liegt ein Gesangbuch, aufgeschlagen bei Lied Nummer 400: „Ich will dich lieben, meine Stärke.“ Irgendwer wird es sicherlich heute noch lesen. Der Himmel zieht sich schon wieder zu.

Alle eingetragenen Radwegekirchen in Deutschland sowie Erläuterungen zu den unterschiedlichen Radwegen findet man unter radwegekirchen.de.


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