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Ein wirklicher Volksaufstand

(Foto: Screenshot https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/der-aufstand-des-17-juni-1953/ Bundeszentrale für politische Bildung)

„Ich hätte nie gedacht, dass die tatsächlich schießen“

Am 17. Juni jährt sich der Volksaufstand in der DDR zum 70. Mal. Aus diesem Anlass druckt IDEA eine gekürzte Fassung eines Interviews des früheren IDEA-Leiters Helmut Matthies mit dem lutherischen Pfarrer und Evangelisten Theo Lehmann (89) aus dem Jahr 2003 ab.

IDEA: Herr Lehmann, wo waren Sie am 17. Juni?

Lehmann: Ich war damals 19 Jahre alt und saß im Theologischen Seminar in Leipzig. Wir hatten gerade Latein. Während ein liebenswerter Lehrer uns mit Cicero traktierte, sah ich, wie Bauarbeiter in die Innenstadt marschierten. Ich verließ das Seminar und schloss mich der Demonstration an. Ich dachte: Es kann nicht sein, dass ich hier Vokabeln pauke, während die da unten auf der Straße Geschichte machen und Kopf und Kragen riskieren.

IDEA: Wie verlief die Demonstration?

Lehmann: Der Volkswitz brachte sofort gepfefferte Slogans hervor. Auf einem Plakat stand zum Beispiel: „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille.“ Spitzbart stand für Walter Ulbricht (1893–1973), Staatsratsvorsitzender der DDR, Bauch für Wilhelm Pieck (1876–1960), Vorsitzender der SED, und Brille für Otto Grotewohl (1894–1964), den Ministerpräsidenten der DDR. „Wir fordern freie Wahlen und den Rücktritt der Regierung“, schrien wir. Ich brüllte den ganzen Tag, bis ich so heiser war, dass ich kaum noch sprechen konnte.

IDEA: Der Tag endete blutig.

Lehmann: Die Panzer kamen, und es fielen Schüsse. Neben mir wurde einer meiner Mitstudenten getroffen, mit dem ich morgens noch zusammen war. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich das Blut eines Menschen wie eine Fontäne aus der Einschussstelle seines Körpers herausschießen.

IDEA: Hatten Sie mit den Schüssen gerechnet?

Lehmann: Ich hätte nie gedacht, dass die tatsächlich schießen. Die Sozialisten hatten bisher ganz andere Maßnahmen vollzogen. So wurde die kirchliche Jugendarbeit, also die „Junge Gemeinde“, von ihnen als illegale Organisation bezeichnet und deshalb unterdrückt. Auf Plakaten wurde vor uns als Christen gewarnt, viele wurden verhaftet. Aber das waren ja alles noch ideologische Kämpfe.

IDEA: Was sagten Ihre Eltern?

Lehmann: Mein Vater war damals Dekan der Theologischen Fakultät in Halle und sollte vor dem Senat der Universität eine Ergebenheitsadresse an die Regierung abgeben. Stattdessen hielt er dann eine Protestrede. In die SED-ergebene Stellungnahme der Universität schrieb er eine kritische Passage hinein. Erst dann unterschrieb er sie. Zu Hause haben meine Mutter und mein Bruder ihm deswegen Vorwürfe gemacht. Daraufhin hat mein Vater seine Unterschrift wieder zurückgenommen. Der Fall war wahrscheinlich einmalig in der Geschichte der DDR! Alle Professoren, auch die bürgerlichen, hatten gegenüber Ulbricht ihre Ergebenheit bezeugt. Nur eine Unterschrift fehlte – und das war die meines Vaters.

IDEA: Hat er dadurch Probleme bekommen?

Lehmann: Interessanterweise im damaligen Chaos nicht. Im Gegenteil: Der Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, zu der Halle gehörte, Johannes Jänicke (1900–1979), kam aus Magdeburg angereist. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass mein Vater nicht unterschrieben hatte, und war darüber begeistert.

IDEA: Ein Bischof, der bewusst gegen das Regime stand?

Lehmann: Ja, damals gab es noch solche Kämpfernaturen, tiefgläubige Menschen, die aus dem Evangelium lebten und dadurch eine klare, unangepasste politische Haltung hatten. Jänicke gehörte nicht zu den „Hans Würsten“, wie wir sie heute leider auf vielen Bischofssitzen haben.

IDEA: War Ihre Enttäuschung groß, dass der Westen nach dem 17. Juni nichts unternahm?

Lehmann: Was hätte der Westen tun sollen, als die russischen Panzer vorfuhren? Eine militärische Konfrontation wäre doch Wahnsinn gewesen!

IDEA: Dachten Sie daran, die DDR zu verlassen?

Lehmann: Nein, nie. Für mich war klar, dass da, wo ich geboren und aufgewachsen bin, mein Platz ist – und ich hier Pfarrer werde.

IDEA: Der 17. Juni wurde 1990 von der Bundesregierung als Feiertag abgeschafft. Viele, die an den  Aufständen teilgenommen hatten, fühlen sich bis heute nicht richtig gewürdigt …

Lehmann: Ich fand diese Abschaffung unmöglich. Es wäre gut, wenn diese Entscheidung rückgängig gemacht würde. Denn in der Geschichte Deutschlands war der 17. Juni ein einmaliges Ereignis. Die DDR war eine Diktatur, in der es zuvor nie eine eigenmächtige Demonstration gegeben hatte. Alles war doch gelenkt und geplant. Und dann wagten sich die Menschen trotzdem auf die Straße und warfen sogar Steine gegen die Panzer. Das hat doch gezeigt, wie das Volk gedacht hat. Es war wie eine Eruption.

IDEA: Damals wurde die „Junge Gemeinde“ bekämpft …

Lehmann: Ich trug das Abzeichen der Jungen Gemeinde mit der Weltkugel und dem Kreuz an der Brust. Christliche Abzeichen aber waren verboten. Wir haben auf Anfragen deshalb immer gesagt, das ist kein Abzeichen, sondern ein Bekenntniszeichen. Die Rektorin meiner Schule verlangte trotzdem von mir, dass ich das Ding abmache. Daraufhin bin ich am gleichen Tag in die kommunistische „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) eingetreten, habe das FDJ-Zeichen neben dem Kreuz angebracht und erklärt: Wenn ich das Kreuz abmachen muss, mache ich auch das FDJ-Abzeichen ab. Zwei Jahre später hat sich die Frau an mir gerächt. Sie ließ mich durchs Abitur fliegen. An anderen Schulen sind die Christen gleich von der Oberschule verwiesen worden.

IDEA: Und was machten Sie dann?

Lehmann: Man musste sehen, dass man irgendwo eine Arbeit fand. Gott sei Dank wurde nach dem 17. Juni der Kampf gegen die Junge Gemeinde eingestellt. Das Verhältnis zur Kirche blieb zwar in der Propaganda hetzartig, wurde aber in der Praxis ziviler. Ich konnte später mein Abitur in Berlin nachholen.

IDEA: War die tolerantere Praxis ein Zugeständnis, um das Volk zu beruhigen?

Lehmann: Ja, die Regierung musste nach diesem Volksaufstand den Bürgern wenigstens etwas entgegenkommen.

IDEA: Wie haben Sie dann den Herbst 1989 miterlebt?

Lehmann: Bei jenen Demonstrationen brüllte ich die gleichen Losungen wie 1953: „Wir fordern freie Wahlen und den Rücktritt der Regierung.“ Ich hatte dabei Todesangst. Ich wusste: Die schießen auch. Die jungen Leute um mich herum wussten das nicht. Ihnen fehlte die Erfahrung des 17. Juni. Ich hoffte: Diesmal muss es klappen. Und es hat geklappt. Gott sei Dank!

IDEA: Vielen Dank für das Gespräch.

Theo Lehmann war einer der bekanntesten Pfarrer in der DDR. Zu den Gottesdiensten des sächsischen Jugendevangelisten in der Chemnitzer Lutherkirche kamen zu DDR-Zeiten bis zu 3.000 Personen. Seine  Geschichte hat Lehmann ausführlich in der IDEA-Videoserie KÖNIGSKINDER erzählt. Der Beitrag kann unter s.idea.de/lehmann angeschaut werden.

Volksaufstand in der DDR

Vor 70 Jahren scheiterte eine Revolution, deren Ausmaß lange unterschätzt wurde. In der sogenannten DDR protestierten rund eine Million Menschen an 700 Orten gegen das kommunistische Regime. Die SED- Führung war von der Wucht der Proteste überrascht. Nur durch das blutige Eingreifen der sowjetischen Roten Armee konnten die Unruhen niedergeschlagen werden. Nach neuesten Schätzungen protestierten 100.000 Menschen in Ostberlin, 60.000 in Halle und 40.000 in Leipzig. Es gab 500.000 Streikende, mindestens 13.000 Verhaftungen und 1.000 Haftstrafen. Der Protest forderte etwa 100 Tote, davon mindestens 20 durch Hinrichtungen.


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