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Die wundersame Welt der Herrnhuter - 300-jähriges Jubiläum

1722 – 2022 Herrnhut feiert. (Foto: Screenshot 300jahreherrnhut.de)

Vor 300 Jahren wurde die Herrnhuter Brüdergemeine gegründet. Die sächsische Kleinstadt feiert mit mehreren Ausstellungen und Festveranstaltungen ihr Jubiläum. Karsten Huhn berichtet.

Am 1. Juni 1722 fällte ein Zimmermann an der Landstraße zwischen Görlitz und Zittau einen Baum. Die Fällung gilt als Beginn der Siedlung Herrnhut. In ihr durften sich aus ihrer Heimat in Böhmen und Mähren  vertriebene Christen ansiedeln. Dazu eingeladen hatte sie der vom Pietismus geprägte Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und Pottendorf (1700–1760). Er war in einem Schloss im benachbarten Großhennersdorf aufgewachsen. Zinzendorfs Ziel war eine Art urchristliche Gemeinde, die sich „unter des Herrn Hut“ stellen sollte. Der Ort sollte „in beständiger Liebe mit allen Brüdern und Kindern Gottes in allen Religionen stehen, kein Beurteilen, Zanken oder etwas Ungebührliches gegen Andersgesinnte vornehmen, wohl aber sich selbst und die evangelische Lauterkeit, Einfalt und Gnade unter sich zu wahren suchen“.

In einer klug kuratierten Ausstellung im Herrnhuter Völkerkundemuseum lässt sich nun die Geschichte des kleinen Städtchens mit der weltweiten Ausstrahlung nachverfolgen. Das 1878 gegründete Museum zeigt „ethnographische Gegenstände, die zum Teil in andern Museen nicht zu finden sind, Geräthschaften, Waffen, Wohnungsmodelle, Götzen etc.“. So verkündet es ein Werbeplakat aus dem Jahr 1895, das in der Ausstellung gezeigt wird.

Von Sachsen nach Grönland und Westindien

Ein Missionsatlas gibt Auskunft über die Arbeitsgebiete für die Herrnhuter. Denn Sachsen war für die Glaubensbrüder nur eine Zwischenstation. Schon bald nach ihrer Ansiedlung im lieblichen Oberlausitzer Bergland breiteten sie sich weiter in der Welt aus. Ein „Missionsquartett“-Kartenspiel aus dem Jahr 1932 zeigt Missionare, die in Grönland, Südafrika, Westindien und Nordamerika tätig waren. Sie gründeten Schulen und eröffneten Krankenhäuser, fertigten Bibelübersetzungen und Wörterbücher an. Vom Missionseifer, das Evangelium hinaus in die Welt zu tragen, zeugt „Ein Nach dem Alphabet Wohl eingerichtetes Wörter-Buch Nebst unterschiedene Redens-Arten, mit vieler Mühe und Fleiß zusammen getragen seit 1734 bis hierher“.

Von ihren Missionsreisen brachten die Herrnhuter Erinnerungsstücke mit, die im Herrnhuter Museum zu sehen sind, etwa ein aus Bambusstreifen geflochtener Strohhut aus China, Trinkgläser aus dem russischen Kalmykien, ein Paar Männersandalen aus Deutsch-Ostafrika (heute Tansania) und Seehundleder-Stiefel aus Labrador (Kanada).

Die Herrnhuter verbanden Missionsgeist mit Geschäftstüchtigkeit. Ihre Stadt war Handwerkerkolonie und Handelsplatz. Das Herrnhuter Handelshaus Abraham Dürninger & Co. importierte aus den Missionsgebieten Baumwolle, Tabak und Bananen nach Sachsen – das Völkerkundemuseum erinnert mit alten Zigarrenkisten daran.

Ein geistlicher Kraftriegel

Wohl am bekanntesten sind die Herrnhuter für ihre „Losungen“, ein Andachtsbuch, das in 60 Sprachen in Millionenauflage verbreitet wird. Die Losungen sind ein täglich einzunehmender geistlicher Kraftriegel. Ursprünglich war die Losung ein Bibelwort, das Graf Zinzendorf bei seiner Abendandacht als Parole für den nächsten Tag ausgab. Im Laufe des nächsten Tages wiederholte die Brüdergemeine den Tagesvers so oft, bis sie ihn auswendig konnte.

Seit 1731 erscheinen die Losungen als Andachtsbuch. Bei einer jährlichen Ziehung werden sie von einem Herrnhuter Theologenteam ausgelost. Gelost wird dabei nur der Vers aus dem Alten Testament – aus einer Vorauswahl von 1.826 Versen. Der ausgeloste Vers wird dann durch einen Vers aus dem Neuen Testament sowie einen Liedtext oder ein Gebet ergänzt. Die „Losungen“ sind also zugleich auch „Auswahlen“.

Jährlich 780.000 Weihnachtssterne

Nicht fehlen darf in der Ausstellung der Hinweis auf den zweiten Herrnhuter Exportschlager: den Weihnachtsstern. 1897 begann in Herrnhut die serienmäßige Produktion des patentierten Papiersterns mit 25 Zacken. Der Stern soll zur Weihnachtszeit an den Stern über Bethlehem erinnern, der die Weisen aus dem Morgenland auf die Geburt Jesu hinwies. Heute produzieren 160 Mitarbeiter in der Herrnhuter Sterne GmbH jährlich 780.000 Sterne in allen Größen – von 13 Zentimetern Durchmesser für den Privatgebrauch bis zu Sonderanfertigungen mit einem Durchmesser von 2,50 Meter – etwa für das Bundeskanzleramt in Berlin. Eifrige Sternforscher, die mehr über das Herrnhuter Unikum erfahren wollen, können den Herrnhuter Zackendrehern in einer Schaumanufaktur über die Schulter schauen.

Deutschlands ältester Bläserchor

Weniger bekannt dürfte sein, dass der älteste Bläserchor Deutschlands aus Herrnhut kommt. Dokumentiert ist, dass schon bei der jährlich stattfindenden Denksteinfeier im Jahr 1731 Trompeten erklangen. Eine weitere Herrnhuter Besonderheit zeigt das „Liebesmahltablett mit Meißner Porzellangeschirr“, ein Ausstellungsstück aus dem 19. Jahrhundert. Bis heute servieren die Herrnhuter zu besonderen Anlässen Tee und Rosinenbrötchen, um ihre Nächstenliebe auszudrücken.

Nur kurz erwähnt wird die jüngere Geschichte Herrnhuts. Während des Zweiten Weltkrieges wurden Wehrmachtsoldaten in Herrnhut einquartiert, heißt es in der Ausstellung: „Die Begeisterung für den Nationalsozialismus war auch in der Stadt und der Brüdergemeine allgegenwärtig.“ Zu DDR-Zeiten eckten die Herrnhuter mit ihren Druckerzeugnissen an: Das Lesezeichen mit dem „Schwerter zu Pflugscharen“-Symbol der Friedensbewegung war beim Staat nicht gern gesehen.

Die meisten Herrnhuter leben in Tansania

Und die Gegenwart? Wer über sie mehr erfahren möchte, sollte sich auf den Weg zum Kirchensaal der Evangelischen Brüder-Unität machen. Er ist der zentrale Versammlungsort der Gemeinde. Seit drei Jahren wird das Gebäude generalüberholt, in den nächsten Wochen soll es fertig werden. Im Kirchensaal riecht es nach Malerfarbe, Kirchenbänke und Wände strahlen weiß. Der Fußboden wurde neu verlegt, auch eine neue Heizung wurde eingebaut. An der Orgel wird noch gewerkelt. Der Saal ist bilderfrei, schlicht und doch schön.

Die Herrnhuter sind ein kurioses Hybrid: Sie sind der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) angegliedert und zugleich Gastmitglied in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF). Statt Kirchensteuer zu erheben, sammeln sie freiwillige Beiträge. Und sie praktizieren die Kindertaufe, befürworten zugleich aber auch den Taufaufschub, damit sich der Täufling später eigenständig für die Taufe entscheiden kann.

In einem Nebenraum gibt eine weitere Ausstellung Auskunft über die jüngste Entwicklung der Herrnhuter: In Deutschland gibt es 16 Gemeinden mit knapp 5.000 Mitgliedern. Davon leben rund 500 in Herrnhut (der Großteil der 1.600 Einwohner Herrnhuts ist heute konfessionslos). Weltweit gibt es 1.700 Gemeinden mit 1,2 Millionen Mitgliedern. Die meisten von ihnen – rund 700.000 – leben in Tansania.

Von einer Mitarbeiterin des Kirchensaales bekommt man auch einen Schlüssel des Vertrauens in die Hand gedrückt. Mit ihm kann man die Eingangstür zum Altan, dem Herrnhuter Aussichtsturm, aufschließen. Er befindet sich auf dem Hutberg, der allerdings eher ein Hügel als ein Berg ist. Der 1790 erbaute Altan gilt als das Wahrzeichen Herrnhuts und soll an einen Spaziergang erinnern, den Graf Zinzendorf mit seiner Frau dorthin machte.

Deutschlands faszinierendster Friedhof

Um zum Altan zu kommen, durchschreitet man die Gottesackerallee (noch so eine Besonderheit: Die Herrnhuter Straßennamen! Denn wo gibt es sonst noch eine Jubelallee? Da möchte man doch gerne wohnen). Die Gottesackerallee führt zum Gottesacker. Der Ort wurde zu „Deutschlands faszinierendstem Friedhof“ gewählt. Auf einer Fläche von vier Fußballfeldern sind alle bisher verstorbenen 6.200 Herrnhuter Gemeindeglieder bestattet. Die Gräber sind alle gleich groß – mit Ausnahme der Gedenksteine für Zinzendorf und seine Familie. Ansonsten gibt es keine Familiengrabstätten; Frauen und Männer werden getrennt beerdigt.

Vom Altan fällt der Blick auf den Gottesacker mit seinen mehr als 1.000 Linden. Daneben befindet sich ein zweiter, deutlich kleinerer Friedhof. Auf ihm findet gerade eine Bestattung statt. Es handelt sich um den kommunalen Friedhof. Auf dem Gottesacker werden nur Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine beerdigt; alle anderen finden ihren Platz auf der kommunalen Begräbnisstätte.

Was ist heute so in Herrnhut los?

Wer wissen will, was heute so in Herrnhut los ist, wird im Heimatmuseum fündig. Dort ist in der Sonderausstellung „24 h Herrnhut“ das Ergebnis einer schönen Idee zu besichtigen: Vor einem Jahr – am 1. Juni 2021 – schwärmten 20 Fotografen aus, um 24 Stunden lang den Herrnhuter Alltag zu dokumentieren. Hat man die 222 Bilder gesehen, möchte man am liebsten gleich nach Herrnhut ziehen. Das erste Bild zeigt Bäckermeister Gottfried Paul in seiner Backstube. Um 4:29 Uhr verladen Waldarbeiter von Borkenkäferschäden betroffene Baumstämme. Die folgenden Motive zeigen Schornsteinfeger, Pferdewirt, Fleischer und Verkäuferinnen, die Grundschüler im Gänsemarsch auf dem Weg zur Schule, Zimmermeister und Milchbäuerin. Im Kindergarten Senfkorn wird gebastelt (der Name erinnert an das biblische Gleichnis sowie an die Herrnhuter Senffabrik). Natürlich gibt es einen Blick in die Schauwerkstatt der Herrnhuter Sterneproduktion, man kann bei der Heuernte zuschauen und einen Blick in die Behindertenwerkstatt der Diakonie werfen. Man sieht, wie auf der Weihnachtsbaumplantage die Bäume beschnitten werden. Hinter den Zinzendorfschulen wird eine neue Turnhalle gebaut. Es ist ein warmer Sommertag, die Wassertemperatur im Waldbad beträgt angenehme 23 Grad. Die Herrnhuter D-Jugend trifft sich zum schweißtreibenden Training, auch der Tischtennisverein, die Seniorensportgruppe und eine Kegelgruppe sind aktiv. Das letzte Bild zeigt, wie um 21:04 Uhr über Herrnhut die Sonne untergeht.

Und mein Lieblingsbild? Es zeigt die alte Frau Fuchs. Sie sitzt im Garten des Herrnhuter Hospizes im Schatten eines Ginkgo-Baumes. Das Bild strahlt einen Frieden aus, dem man sich kaum entziehen kann.?


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