Vier Stunden Gebet am Morgen, Handy und Computer in einen Schrank gesperrt: Das ist für Johannes Hartl der ideale Tag. Der 44-jährige Gründer und Leiter des Gebetshauses Augsburg betet in dieser Kriegszeit intensiv um einen Gesinnungswandel in der russisch-orthodoxen Kirche. Aber auch bei uns wünscht er sich eine weniger zaghafte Kirche. Von Andrea Vonlanthen
IDEA: Halleluja oder Stoßseufzer: Wie sind Sie heute Morgen in den Tag gestartet?
Hartl: Es waren eher Stoßseufzer. Es gab in der Familie einige medizinische Herausforderungen. Außerdem hatten wir gestern Abend ein Gebet zusammen mit Christen aus der Ukraine, so dass mir die Situation dort sehr präsent ist.
IDEA: Sie verbringen morgens jeweils vier Stunden im Gebet.
Hartl: Ich schaffe es nicht immer. Vier Stunden im Gebet ist mein idealer Tag. Über die Jahre hinweg gelingt das mal besser, mal weniger. Heute war zum Glück ein Tag, wo es so möglich war. Ich schaffe es am besten, indem ich pünktlich um 8 Uhr schon an unserem Stundengebet teilnehme. Das ist so ähnlich wie in den Klöstern, „Laudes“ nennen wir es. Meine Sekretärin weiß, dass sie vor 12 Uhr keine Termine eintragen darf.
IDEA: „Not lehrt beten“, sagt der Volksmund. Welche Not hat Sie beten gelehrt?
Hartl: Mich hat nicht die Not beten gelehrt, sondern die Faszination an Gott. Darum ist für mich das fürbittende Gebet das Sekundäre und die Anbetung Gottes das Primäre. Für mich hat das ruhige, stille Sein bei Gott den tiefsten Wert.
IDEA: In welchem Alter haben Sie diese Faszination entdeckt?
Hartl: Mit 14 habe ich auf einem Jugendcamp eine für mich einschneidende Glaubenserfahrung gemacht. Ein halbes Jahr später habe ich gemerkt, dass meine anfängliche Freude an Gott wieder weg war. Das hat mich enorm hungrig gemacht. Ich habe mich gefragt, wie ich ganz in Gottes Nähe bleiben kann. Ich war 15, als ich begann, die großen Lehrer des geistlichen Lebens zu lesen und auf die Spur zu kommen, dass das mit dem Gebet zu tun hat. Da habe ich angefangen, jeden Tag eine längere Zeit mit Gott zu verbringen. Das hat den entscheidenden Unterschied in mein Leben gebracht.
IDEA: Beten Sie als Katholik auch zu Maria und zu Heiligen?
Hartl: Für mich ist das Gebet zu Gott das Entscheidende. Mein Verständnis von Heiligen- und Marienverehrung ist eher das, dass ich mich eingebunden weiß in eine Familie von Gläubigen.
IDEA: Sind Sie mehr Katholik oder mehr Evangelikaler?
Hartl: Diese Kategorien finde ich grundsätzlich schwierig. Ich bin Katholik, aber einer, der sehr Jesus-zentriert und auch Schrift-zentriert und entscheidungsfreudig lebt. Das sind Adjektive, die manche mit evangelikal verbinden. Ich glaube aber, dass sie allgemein christlich sind.
IDEA: Wie erklären Sie einem Atheisten das Gebet?
Hartl: Ich muss es ihm gar nicht erklären. Wahrscheinlich hat er in seinem Leben auch schon gebetet. Er hat nur irgendwann aufgehört und sich selbst erzählt, dass es nichts bringt. Das Gebet ist doch dem Menschen völlig natürlich. Der Atheismus ist das Unnatürliche. Der Glaube, dass wir ein Bewusstsein haben, aber dass es kein höheres Bewusstsein über uns gibt, dem wir uns verdanken, halte ich für unplausibel. Zu meinem Ich gibt es auch ein Du.
IDEA: Was raten Sie dem Atheisten?
Hartl: Ich frage ihn zuerst, ob er Gott überhaupt begegnen will. Wenn er nicht will, wird er den Weg zu Gott nicht finden. Wenn er aber will, wird er Gott finden.
IDEA: Der große US-Evangelist Billy Graham sagte zu den stillen Zeiten mit Gott: „Der Teufel wird dich auf jedem Schritt auf diesem Wege bekämpfen.“ Wie bekämpft er Sie?
Hartl: Genauso wie den modernen Menschen allgemein: durch Hektik, volle Terminkalender, Medienkonsum. Das sind unsere heutigen Fallen, auch meine. Ich spüre diese Versuchung besonders, weil ich ein sehr aktiver Mensch bin und auch viel auf den sozialen Medien mache. Es gilt, diese Spannung zu gestalten. Aber es ist nicht immer leicht. Konkret: Wenn ich hier in diesem Raum bete, muss ich manchmal mein Handy und meinen Computer ins andere Ende dieses Gebäudes tragen und dort in einen Schrank sperren. Sonst bin ich versucht, ans Handy zu gehen.
IDEA: Wie kann man neu Feuer fangen für das Gebet?
Hartl: Indem man anfängt und sich jeden Tag eine feste Zeit dafür nimmt. Und das nicht aus einem Leistungsdruck heraus, sondern weil man diesen Wunsch in sich trägt. Wenn auch nur eine Portion Leistungsdruck dabei ist, ist das Gericht von Anfang an versalzen.
IDEA: Abgesehen vom Gebet: Was ist zentral für Ihr Glaubensleben?
Hartl: Gebet ist nicht alles, aber ohne Gebet ist alles nichts! Alle anderen Aspekte des Glaubens verlieren ihre innere Mitte ohne das Gebet. Für mich ist natürlich die Schrift wesentlich. Für mich ist die Gemeinschaft im Glauben, auch das gemeinschaftliche Beten wie hier im Gebetshaus oder in der Familie, wesentlich. Für mich sind die Eucharistie, das Mahl des Herrn, die Sakramente, sehr wichtig. Für mich ist auch der ästhetische Zugang zu Gott sehr wichtig. Ich denke an die Schönheit der Natur oder der Musik. Mir ist das Ganzheitliche sehr wichtig: der Intellekt, das Herz, die Gefühle und auch die Ästhetik.
IDEA: Kann es vorkommen, dass Sie nicht mehr beten können?
Hartl: Dass ich komplett nicht mehr beten kann, das gabs bis jetzt nie. Ich merke nur, dass mein Gebet sehr flach und kurzatmig wird, wenn meine innere Getriebenheit zu groß wird.
IDEA: Was heißt für Sie wirkungsvoll beten?
Hartl: Ich habe wirklich Wunder erlebt. Und doch bleiben die Wunder geheimnisvoll, weil sie sich nicht in ein Rezept packen lassen. In der Fürbitte kann es vorkommen, dass man ein bestimmtes Thema aufs Herz gelegt bekommt. Und nicht selten erlebt man dann, dass das Erbetene geschieht. Wir haben im Gebetshaus schon erstaunliche Dinge erlebt. Deswegen habe ich keine Zweifel daran, dass das Gebet Wirkungen erzielt.
IDEA: Wofür beten Sie jetzt am intensivsten?
Hartl: Momentan bete ich intensiv für die orthodoxe Kirche in Russland. Wenn sie aufstehen würde gegen den Krieg, hätte das massive Auswirkungen. Dass Menschen, die nicht an Gott glauben oder die einer bösen Ideologie verhaftet sind, böse Dinge tun, ist ein Stück weit verständlich. Dass Christen, und seien es auch nur nominelle, das gutheißen, ist besonders tragisch. Die Kirche sollte Licht und Salz der Erde sein. Darum bete ich um einen Gesinnungswandel in der Orthodoxen Kirche.
IDEA: „Herr, lehre uns beten“, baten die Jünger eindringlich. Was würde Jesus wohl angesichts des Krieges sagen?
Hartl: Genau das gleiche. Das Vaterunser enthält eine Theologie des Gebetes, die eine Absage ist an unsere ideologisch und fast magisch und politisch verdrehten Gebetsformen, von denen man in Kriegszeiten vielen begegnet. Persönlich wünsche ich auch, dass Russland nicht siegen möge. Aber letztendlich geht es um Gottes Willen. Das Vaterunser ist ein gutes Gegengift zu unseren manipulativen Gebeten.
IDEA: „Du hast nicht genug gebetet“: Wie reagieren Sie, wenn Sie in einem Krisenfall diesen Einwand hören?
Hartl: Dann weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Zum Glück höre ich diesen Spruch immer seltener. Wer das sagt, macht doch Gott so klein und überschätzt sich selber.
IDEA: In Ihrem neuen Buch „Eden Culture“ betonen Sie den Wert der Schönheit. Welchen Wert hat denn Schönheit angesichts eines schrecklichen Krieges?
Hartl: Einen ganz großen! Auch die Menschen im Krieg singen Lieder, laden Videos hoch und schreiben Gedichte. Der Mensch lebt auch in Krisenzeiten nicht vom Brot allein. An das Bett eines Krebskranken bringt man auch einen Blumenstrauß mit. Gerade Menschen in existenziellen Krisen gewinnen aus dem Schönen oft Inspiration und Kraft.
IDEA: Wie könnte das Schöne in unserer Krisenzeit noch mehr zum Zug kommen?
Hartl: Generell ist der christliche Glaube in der westlichen Welt in Gefahr, moralistisch und verkopft zu seien. Das Christentum ist nicht in erster Linie eine Moralreligion. Es ist eine Religion der Faszination für das Werk Gottes und für das, was er für uns getan hat. Die ästhetische Kategorie des Glaubens gilt es wieder zu entdecken. Wir sollten das Staunen über Gott und über die guten Gaben des Lebens neu lernen.
IDEA: Worin sehen Sie – abgesehen vom Gebet – die vordringlichste Aufgabe der Kirche?
Hartl: Räume zu schaffen, die es Menschen leicht machen, Gott zu begegnen.
IDEA: Welchen Stellenwert hat da die Verkündigung?
Hartl: Die Verkündigung ist genauso wichtig. Ich bin ja selber ein Mann des Wortes und der Verkündigung. Die Kirche muss eine neue Sprache finden, um in Kühnheit und Präzision die Mitte des Glaubens für heutige Menschen verstehbar zu machen.
IDEA: Wozu sollte sich die Kirche kühner und präziser äußern?
Hartl: Zum Thema Furchtlosigkeit besonders. Zum Thema, dass Gott viel grösser ist als alles andere. Zu fragen ist dann auch, was die Kirche an Perspektiven anbietet. Und da erlebe ich die Kirche als zu zaghaft, und zwar schon während Corona und auch jetzt während des Krieges. Ich hoffe auch, dass der Krieg bald endet. Doch die Kirche hat eine noch viel größere Hoffnung zu verkündigen.
IDEA: Die Kirchen leeren sich mehr und mehr. Was macht Ihnen trotzdem Hoffnung?
Hartl: Die Kirchengeschichte. Das Christentum ist schon so oft gestorben und wieder auferstanden. Das ist doch kein Zufall. Wir glauben ja an den gestorbenen und auferstandenen Herrn. Darum wird auch die jetzige Krise nicht die letzte sein.
IDEA: Vielen Dank für das Gespräch!
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Johannes Hartl lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Augsburg. Er studierte Germanistik und Philosophie und promovierte in München in katholischer Theologie. 2005 gründete Hartl mit seiner Frau Jutta das Gebetshaus Augsburg, in dem seit 2011 Tag und Nacht gebetet wird.