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Die Helferin in der Höhe

Das Missionskrankenhaus „Diospi Suyana“ in den südperuanischen Anden. (Foto: Screenshot diospi-suyana.de/)

Im Volk der Quechua in den peruanischen Anden ist Gewalt gegen Mädchen und Frauen an der Tagesordnung. Sabine Vogel lässt das keine Ruhe. Deshalb hilft sie vor Ort. Ein Beitrag von IDEA-Redakteurin Julia Bernhard

Manchmal bleibt ihr die Luft weg, insbesondere wenn sie von einem längeren Deutschlandaufenthalt in die Anden zurückkehrt. Denn ein Leben auf 3.000 Metern Höhe verlangt einem einiges ab. Aber es ist immer wieder auch die Erkenntnis über die Situation der Menschen dort – insbesondere der Frauen –, die Sabine Vogel den Atem stocken lässt: Nach offiziellen Angaben haben 78% von ihnen Gewalterfahrungen gemacht. „Die Dunkelziffer ist deutlich höher. Wir gehen davon aus, dass 90% der Frauen und Mädchen sexuellen Missbrauch oder Gewalt erlitten haben.“ Auch nach 13-jähriger Tätigkeit in Peru unter dem Volk der Quechua sind diese Zahlen für die 52-Jährige immer noch unfassbar. Denn hinter jeder abstrakten Zahl verbergen sich persönliche Schicksale, mit denen Sabine Vogel Tag für Tag in Berührung kommt. In Deutschland hatte sie eine sichere Stelle als Kinderintensivschwester im fränkischen Erlangen. Eines Tages berichtete ihr eine Kollegin von ihrem Hauskreis. Das habe sie mit solch einem Strahlen in den Augen gesagt, dass Vogel beeindruckt war: „Ich bin zwar christlich aufgewachsen, habe Gott aber immer mit vielen Regeln und Strafen verbunden. In diesem Moment hat er mich zurückerobert.“ Von da an überlegte sie, was sie aus ihrer christlichen Überzeugung heraus mehr tun könne. Mit Zusatzausbildungen im Trauma-, Mentoren- und Mediatoren-Bereich im Gepäck ging sie 2010 in das Missionskrankenhaus „Diospi Suyana“ in den südperuanischen Anden.

Missbrauch im Namen der Heiligen

„Mir fiel bei den Behandlungen auf, wie viele Frauen und Kinder Narben und Wunden hatten. Wenn man sie anfassen wollte, reagierten sie verschreckt. Wir konnten ihren Körper zwar heilen, aber sie sind danach in dasselbe Elend zurückgegangen.“ Missbrauch und Gewalt seien unter dem Volk der Quechua in diesem Gebiet normaler und systematisierter, als man das kenne: „Oft werden sexualisierte Verhaltensweisen als ,Spiel‘ tituliert, das bereits über Generationen gespielt wird und zudem immer wieder im Namen der Heiligen und der verschiedenen Gottheiten geschieht, die hier angebetet werden.“ Zu gerne wollte sie den betroffenen Menschen helfen: „Diese Frauen und Familien sind so geknechtet und haben noch nie gehört, wie wertvoll sie sind und wir sehr Gott sie liebt.“ Kurze Zeit später traf sie die peruanische Leiterin einer anderen Hilfsorganisation, die sie fortan mitnahm.

Als Yohana starb

2014 besuchten sie im Hochland einen peruanischen Pastor. „Auf einmal hörte ich vom Bett das Röcheln eines Kindes. Ich fragte, wer das sei.“ Der Pastor führte sie voll Scham an die Lagerstätte. Dort lag ein Mädchen im eigenen Speichel und Urin. Es sei völlig abgemagert gewesen, vielleicht fünfeinhalb Kilo schwer. Viel zu klein, dabei 12 Jahre alt, erinnert sich Sabine Vogel: „Es stank fürchterlich. Ein Bild des Elends.“ Als die Eltern vor vielen Jahren festgestellt hatten, dass sich das Kind nicht normal entwickelte, hatte ihnen ein Arzt geraten, es sterben zu lassen. Doch Yohana lebte weiter. „Normalerweise gilt ein Quechua-Mann, der ein behindertes Kind zeugt, nicht als vollwertiger Mann. Deshalb verlassen viele die Familie oder verheimlichen das Kind.“ Yohana lag seit 12 Jahren im Dunkeln der Hütte, ihre Gliedmaßen verkrümmt und versteift durch spastische Anfälle. Vogel nahm sich vor, dem Kind zu helfen. Doch erst nach vier Wochen konnte sie wieder hoch in die Anden fahren. „Eine halbe Stunde bevor wir kamen, ist Yohana verhungert. Ich war so sauer auf Gott und die Welt. Aber ihr Vater sagte: Jetzt ist Yohana bei Gott und singt und springt und tanzt.“ Dieser Perspektivwechsel sei die Predigt ihres Lebens gewesen, sagt Vogel heute: „Vielleicht wollte Gott, dass ich sie nur ein Mal sehe. Damit mir klar wird, was ich zu tun habe.“ Oben in den Hochanden gab es noch so viel mehr behinderte Kinder. Da war sie nun, ihre Aufgabe: „Gott ist ja manchmal ein Schlingel. Er überfordert einen nicht. Er setzt einen genau an den richtigen Platz. Er weiß, was man ertragen kann. Zuerst kam die Arbeit mit den Frauen, dann die mit den Kindern dazu.“ Der Wohnzimmertisch ihres Hauses in Andahuaylas wurde zum Behandlungstisch für Patienten, zum Esstisch für Mitarbeiter, zum Besprechungstisch und der Mittelpunkt vieler Hauskreise. Das Ziel: Einen Ort zu schaffen, wo die Menschen sich in Gottes Gegenwart wohlfühlen. 2018 gründete Vogel gemeinsam mit ihren beiden Geschwistern Matthias Vogel und Annette Büttel die Stiftung „casayohana“ (Yohanas Haus), die zwei Arbeitsbereiche in Peru absichert. Über 35 ehrenamtliche Mitarbeiter kamen seither dazu. Zum einen begleitet geschultes Personal Opfer von sexuellem Missbrauch sowie häuslicher Gewalt und sensibilisiert für Frauen- und Kinderrechte. Zum anderen werden Familien mit chronisch kranken oder behinderten Kindern angeleitet und unterstützt. Inzwischen betreut sie mit einem Team aus 30 fest angestellten Mitarbeitern etwa 200 Familien.

Zeit schlägt Misstrauen

Die Arbeit mache sie sehr glücklich, aber sie sei herausfordernd, sagt Vogel: „Auch den Tätern begegnen wir mit Respekt – selbst wenn sich alles in mir sträubt. Weil Gott sie ganz genauso liebt. Das ist eine harte Übung.“ Um die Menschen zu erreichen und enge Beziehungen aufzubauen, müsse man viel Zeit und Ruhe investieren: „Das Volk der Quechua ist misstrauisch. Sie glauben, je weißer man ist, desto habgieriger sei man.“ Viele nähmen tatsächlich an, Ausländer wollten ihnen die Organe, das Blut und das Haus nehmen. Es dauere teilweise sehr lange, bis man sie erreiche: „Du kannst nur beten und hoffen, dass du eines Tages die richtigen Worte triffst.“ In den Hochanden, wo die Luft nun mal dünner ist, geht das Leben langsamer vonstatten, die Dinge brauchen ihre Zeit. Hauptsache, man kann am Ende frei atmen, findet Sabine Vogel.

Die Quechua

Das Volk der Quechua ist eine Sammelbezeichnung für die indigene Bevölkerung in Peru, Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Chile und Argentinien, deren Muttersprache das Quechua ist. Die Sprache hat allerdings viele verschiedene Varianten, die sich zum Teil stark unterscheiden. In Peru verwenden rund 14% der Bevölkerung die etwa 5.000 Jahre alte Sprache, die seit 1969 zweite Amtssprache dort ist. Die Quechua bewohnen vor allem das Hochland der Anden. Quechua wurden immer wieder Opfer politischer Konflikte und ethnischer Verfolgung. Die Quechua gehören der katholischen Kirche an, vermischen die Lehre aber mit ihrer traditionellen Religion, in der Berggeister und verschiedene lokale Gottheiten verehrt werden.


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