Als „Rastplatz für die Seele“ werden sie gern bezeichnet – die 44 Autobahnkirchen in Deutschland. Mehr als eine Million Menschen besuchen sie jedes Jahr auf ihren Reisen quer durchs Land. Eine Reportage von IDEA-Redakteurin Julia Bernhard anlässlich des jährlich stattfindenden Tags der Autobahnkirchen am 20. Juni
Eine obdachlose Frau sitzt in der prallen Sonne an einem der Picknicktische an der Autobahnraststätte Medenbach West bei Wiesbaden. Der Verkehr auf der A3 rauscht dröhnend vorbei. Sie fragt, ob man Richtung Süden fahre. Nein? Macht nichts. Sie wolle ja auch eigentlich gar nicht weg. Sie will nur in den Schatten. Der einzige sonnengeschützte Platz ist der Vorhof der Autobahnkirche. Langsam schlendert sie dorthin und setzt sich. Sie betrachtet das große verzierte Glasdach, schaut danach stur geradeaus durch das schmale Fenster in der Fassade, das den Blick auf den Altar und das Wandkreuz freigibt, und raucht eine Zigarette.
Pfarrerin Bea Ackermann und Küsterin Bettina Göbel kennen sie gut. Sie ist oft hier. Heute Morgen hat Göbel sie schlafend in der Kirche vorgefunden: „Damit muss man in einem Gebäude rechnen, das 24 Stunden geöffnet ist und direkt an einer Autobahn liegt. Aber wir sind eben offen für alle – auch für sie.“
Der Besucher: männlich, 50, katholisch
Jährlich suchen eine Million Menschen die 44 Autobahnkirchen in Deutschland auf. Eine Studie des Zentrums für kirchliche Sozialforschung der Katholischen Fachhochschule Freiburg hat herausgefunden, dass der durchschnittliche Besucher männlich, um die 50 Jahre alt und katholisch ist sowie in der Regel fünf bis zehn Minuten dort verweilt. Und viele sind offenbar Wiederholungstäter. In den sogenannten Anliegenbüchern, in denen sich Besucher mit ihren Fürbitten verewigen dürfen, finden sich oft dieselben Handschriften. „Wolfgang“ etwa besucht die Autobahnkirche in Medenbach in sehr regelmäßigen Abständen. Er hat immer viel zu berichten und zu danken. Rund 43.000 Seiten haben Menschen auf der Durchreise hier in den vergangenen 20 Jahren vollgeschrieben, sagt Pfarrerin Ackermann. Inzwischen liege hier das 44. Buch aus: „Die meisten Eintragungen sind Danksagungen, dass man hier zur Ruhe kommen könne, und Bitten für eine gute Weiterreise.“ Aber auch Krankheiten und Verluste sowie Liebe und Partnerschaft spielten eine wesentliche Rolle bei den Fürbitten. „Danke, dass der 1. FC Köln auch in der kommenden Saison 1. Bundesliga spielt“, steht neben dem Gebet für ein gerade verstorbenes Kind. Was Menschen bewegt – sie tragen es hierher und hier ein.
Ein deutsches Phänomen
Menschen auf Reisen und auf dem Weg hätten schon immer Orte der Andacht und der Einkehr aufgesucht, sagt Ulrich Tückmantel. Der Pressesprecher der Bezirksregierung Münster hat vor zwei Jahren ein Buch über Autobahnkirchen veröffentlicht. Bei seinen Recherchen hat der Katholik beobachtet, dass sich dieses Bedürfnis seit den Wegkapellen des Mittelalters eigentlich nicht geändert habe: „Menschen, die unterwegs sind, wollen nicht nur von A nach B gelangen.“ Die Autobahnkirchen sieht er deshalb als durchaus sehr berechtigt und notwendig an. Dennoch seien sie in dieser Masse ein rein deutsches Phänomen. Tückmantel: „Der deutsche Hang zur Kleinstaaterei führt häufig nicht zu Vielfalt, aber immer zu einer Vielzahl: an Rathäusern, die alle das Gleiche machen, Schwimmbädern – und Autobahnkirchen. In unserer regionalen und föderalen Gesellschaftsstruktur haben wir zudem bis heute ein häufig sehr kooperatives Verhältnis von Kirche und Staat. Und es gibt faktisch keine privat finanzierten Autobahnen.“ In Frankreich oder Italien wäre ein Boom an Autobahnkirchen wie in Deutschland daher nicht denkbar.
Eine Herausforderung für die Betreiber
Die erste deutsche Wegekirche wurde 1958 an der A8 bei Adelsried (Bayern) errichtet. Die Autobahnkirche an der Raststätte Medenbach West war die erste ihrer Art in Hessen. Der Wiesbadener Unternehmer Alfred Weigle, der solch ein Gebäude selbst als große Hilfe während der schweren Erkrankung seiner Frau kennengelernt hatte, beschloss, auch in seiner Heimat eine solche Kirche zu stiften. Im März 2001 wurde das Gebäude eingeweiht. Seitdem kümmert sich die Evangelische Kirchengemeinde Medenbach um die Kirche. Jeden Tag kommt Küsterin Göbel im Wechsel mit einem Kollegen für zwei Stunden hierher, füllt die Opferkerzen auf, putzt, räumt Unrat weg. Auch Graffiti müssen hin und wieder entfernt werden. Vandalismus ist immer wieder ein Thema. „Es ist organisatorisch und finanziell eine Herausforderung“, bekennt Pfarrerin Ackermann. Derzeit sei das große Glasdach irgendwo undicht. In den kommenden Wochen müsse die Kirche eingerüstet und das Leck dringend gefunden werden. Die Landeskirche beteilige sich zwar, aber vieles bleibe an der kleinen Gemeinde hängen.
Alles lokale Einzelinitiativen
Buchautor Tückmantel sagt, der grundlegende Fehler sei genau dieser: dass nicht „die Kirchen“, sondern einzelne Gemeinden die Betreiber seien – und mit ihren Autobahnkirchen regelrecht alleingelassen würden. Was wie ein Netz aussehe und als Netz tatsächlich sehr wirksam sein könne, sei in Wirklichkeit keines: „Fast alle Autobahnkirchen und -kapellen gehen auf lokale Einzelinitiativen zurück. Im kirchlichen Alltag sind nicht einmal die Autobahnkirchen innerhalb einer Landeskirche oder eines Bistums wirklich vernetzt.“ Man müsse damit rechnen, dass viele Gemeinden sich ihre Autobahnkirchen in Zukunft gar nicht mehr leisten können. Von den heute 44 betriebenen Gebäuden sind 19 in evangelischer, 17 in ökumenischer und acht in katholischer Trägerschaft.
Einbindung in die Ortsgemeinde ist entscheidend
Mit der Einbindung in die Ortsgemeinde stehe und falle allerdings vieles, berichtet Pfarrerin Ackermann. An jedem dritten Mittwoch im Monat veranstalte die Gemeinde an der Raststätte eine Andacht. Für gewöhnlich sei diese immer sehr schlecht besucht gewesen. Es gebe Medenbacher, die überhaupt noch nie „hier oben“ gewesen seien. Sie habe es sich zur Aufgabe gemacht, das Bewusstsein für die Autobahnkirche als Teil der Gemeinde zu stärken, so Ackermann: „Sie ist doch ein Juwel für uns und eine große Chance, noch mehr Menschen zu erreichen.“ Seitdem die Andachten regelmäßig abgekündigt würden, sei das Interesse daran deutlich gestiegen. Die Plätze seien nun in der Regel voll besetzt. Auch Taufen und Hochzeiten wurden hier schon gefeiert. Und selbst die Kindergottesdienstgruppe habe im vergangenen Sommer einen Pilgerweg hierher gemacht und anschließend den Reisesegen zugesprochen bekommen.
Wir sind einfach da – nicht mehr, nicht weniger
In Bochum ist die gemeindliche Anbindung der dortigen Autobahnkirche RUHR einfacher. Sie ist gleichzeitig ohnehin Gemeindegebäude der Epiphanias-Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK). Durch Straßenumlegungen und den Ausbau der Autobahn steht die Kirche seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts keine 30 Meter neben der A40. Im Jahr 2010 wurde ihr offiziell die Zusatzfunktion „Autobahnkirche“ verliehen. Dennoch habe die Gemeinde lernen müssen, diese Aufgabe anzunehmen, berichtet Pfarrer Michael Otto: „Anfangs hoffte man, dass das die Gemeindeentwicklung beschleunigen könnte. Das ist nicht passiert, was eigentlich nicht verwundert.“ Denn hier könne man geradezu exemplarisch die Individualisierung des Glaubens beobachten: „Die Menschen, die hierherkommen, suchen eine Verbindung zu Gott, aber keine Gemeinschaft. Sie wollen ungebunden reingehen und ungebunden wieder rauskommen.“ Also sei man als Autobahnkirche einfach da – nicht mehr und nicht weniger.
Auch in Medenbach beobachtet man diesen gesellschaftlichen Trend. Aber man geht positiv und wertschöpfend damit um. Pfarrerin Ackermann sagt: „Es zeigt mir ja im Grunde genommen zunächst einmal, dass es nicht stimmt, dass der Glaube eine immer geringere Rolle im Leben der meisten Menschen spiele.“ Natürlich sei es ein wenig frustrierend, wenn kurz vor der Andacht jemand in der Kirche sitze und die Einladung zum Bleiben sofort ausschlage. Und dennoch gebe es auch Menschen, die ein Gespräch gezielt suchten. Sie träfen dann in den meisten Fällen die Küster an. Gerade letzte Woche seien etwa zwei Ehepaare hier gewesen, die sich aufgrund der Corona-Pandemie lange nicht gesehen hatten, und zum gemeinsamen Austausch über diese schwere Zeit ausgerechnet die Autobahnkirche ausgewählt hatten, berichtet Bettina Göbel. Da steht die Küsterin gerne bereit und unterhält sich. Im Anschluss an das Gespräch habe sie den Paaren zwei Papierengel geschenkt.
Die Kirchen vergeben eine große Chance
Die Kirchen verschenkten mit den Autobahnkirchen eine große Chance, rügt Autor Tückmantel: „Und das ist in Zeiten der Corona-Pandemie bei einem gleichzeitigen Höchststand von Kirchenaustritten ja schon fast tragisch. Die beiden großen Kirchen schaffen es noch nicht einmal, die 44 deutschen Autobahnkirchen für zeitgleiche Kampagnen der Mission und der Ansprache zu nutzen!“ Als praktisch keine Präsenz-Gottesdienste stattfanden, sei niemand in den Kirchenleitungen auf die Idee gekommen, die Autobahnkirchen aktiv zu bewerben, die ja alle geöffnet blieben. In einer mobilen Gesellschaft wären die Autobahnkirchen als eine neue Form der Gemeinde generell nicht zu unterschätzen. „Schon das einfache Lesen der Anliegenbücher würde ausreichen, um eine Idee zu haben, wie und mit was man die Menschen bei ihren spirituellen Bedürfnissen abholen könnte.“ Die Menschen hätten natürlich ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und Geborgenheit.
Die obdachlose Frau hat inzwischen drei ihrer vier Jacken ausgezogen. Sie scheint eine Weile bleiben zu wollen. Vielleicht auch wieder über Nacht. Bettina Göbel erklärt, wenn sie abends ihren Dienst hier versehe, nehme sie immer ihren Mann mit. „Ich fühle mich dann nicht unbedingt sicher hier. Deswegen habe ich die Frau schon öfter gefragt, ob das der richtige Platz für sie sei. Aber sie meint jedes Mal, sie fühle sich hier sicher.“ Später, zurück auf der Picknickbank auf dem Parkplatz, sagt die obdachlose Frau: „Es ist doch eine Kirche!“