Sebastian Buss hilft als „Pornocoach“ Männern, ihre Abhängigkeit zu überwinden. Aus eigener Erfahrung weiß er, wie schwer dieser Weg ist. Das Interview führte IDEA-Redakteurin Erika Weiss.
IDEA: Herr Buss, ist es wirklich so schlimm, ab und zu mal einen Porno zu schauen?
Buss: Die Frage ist nicht, ob es „schlimm“ ist, sondern was es mit einem macht. Studien zeigen: Pornos verändern die Gehirnstruktur massiv. Bei Pornos schüttet das Gehirn immer wieder Dopamin aus. Unser Gehirn ist nicht für so viel nackte Haut und Impulse ausgelegt. Klienten berichten mir, dass sie sich zum Teil nicht länger als 45 Minuten auf eine Aufgabe konzentrieren können. Und Pornos verändern unser Selbstbild. Menschen vergleichen sich mit anderen. Besonders bei Jugendlichen ist das dramatisch. Das Durchschnittsalter für den ersten Pornokonsum liegt aktuell bei elf Jahren. Die Folgen sind Minderwertigkeitsgefühle und Beziehungsangst. Ein Elfjähriger hat in der Regel keine stabile Persönlichkeit, um mit den Bildern umzugehen. Durch Pornos entsteht ein verzerrtes Bild von Sexualität – dabei ist Sexualität eine wunderbare Erfindung Gottes.
IDEA: Können Sie auch Nicht-Christen davon überzeugen?
Ich empfehle jedem Menschen, komplett auf Pornos zu verzichten – egal, welchen Glaubenshintergrund er hat. Die Pornoindustrie sehe ich sehr kritisch. Hinter jedem Porno stehen Menschen, und wir wissen nicht, ob eine Vergewaltigung stattfindet. 60 Prozent meiner Klienten sind Nicht-Christen. Ich besuche auch viele Schulen und kläre auf. Dabei stelle ich den Schülern gern folgendes Beispiel vor: Max und Moritz sind Zwillinge. Max beginnt mit 14 Jahren, Pornos zu schauen, Moritz nicht. Mit 18 Jahren haben beide ihre erste Freundin. Wie wird die Sexualität von Max aussehen, im Vergleich zur Sexualität Moritz? Die Schüler sprudeln über vor Antworten. Sie wissen, dass der Pornokonsum negative Folgen hat wie Untreue und Egoismus.
IDEA: Wächst aktuell eine Generation von Pornosüchtigen heran?
Ja. Aber die Sucht betrifft nicht nur die junge Generation, sondern auch Menschen, die in den 1980er-Jahren geboren wurden. Ich selbst bin Jahrgang 1989 und bin mit dem Internet aufgewachsen. Heute genügen wenige Klicks auf dem Handy, um Zugang zu Pornografie zu bekommen. Der Markt ist riesig: Es gibt weltweit rund 1,3 Milliarden pornografische Webseiten. Ein Beispiel: Laut einer Studie aus dem Jahr 2017 konsumieren in Deutschland 19 Prozent der 31- bis 40-Jährigen täglich Pornos, 43 Prozent mindestens einmal pro Woche. Jüngere Altersgruppen liegen vermutlich darüber. In Deutschland wird man mit Pornos groß, was Teil der sexuellen Prägung wird.
IDEA: Sie klären an Schulen auf. Wie treten die Lehrer mit Ihnen in Kontakt?
Meistens wenden sie sich an mich, wenn es einen Vorfall gab. Das ist ab der fünften Klasse der Fall, leider kommen aber auch immer häufiger Anfragen von Grundschulen. Neulich hatte sich ein katholisches Jungeninternat bei mir gemeldet, an dem sich zwei Achtklässler beim Sex gefilmt und das in die WhatsApp-Gruppe der 6. Klasse gepostet haben. Ich sollte das mit den Schülern aufarbeiten.
IDEA: Wie gehen Sie mit solchen Fällen um?
Es ist für mich ein Privileg, dass ich helfen darf. Ich kenne all diese Not aus meinem eigenen Leben. Ich weiß, dass diese Jungs dringend Hilfe brauchen und dass diese Hilfe einen großen Unterschied in ihrem Leben machen kann.
IDEA: Woher kennen Sie diese Not?
Ich war selbst viele Jahre pornosüchtig. Meinen ersten Porno habe ich mit zwölf Jahren gesehen. Damals bekam ich über Schulkameraden eine gebrannte DVD. Als 16-Jähriger habe ich teilweise mehrere Stunden täglich konsumiert. Ich fühlte mich damit nicht gut und habe gemerkt, dass ich süchtig bin. Aber ich wusste nicht, wem ich mich anvertrauen sollte. Mit 19 habe ich all meinen Mut zusammengenommen und meinem besten Freund davon erzählt. Es war das erste Mal, dass ich mit dem Thema ans Licht gegangen bin. Plötzlich hatte ich eine große Motivation, gegen meine Sucht zu kämpfen. Es kam dann nach und nach raus, dass es der Hälfte meines Freundeskreises ähnlich ging. Wir haben eine 90-Tage-Challenge gestartet, es gab einzelne Rückschläge. Aber ich erlebte einen Wendepunkt. Freiheit ist möglich. Heute darf ich diese Hoffnung weitergeben.
IDEA: Sie haben die Beratungsstelle „Free & Strong“ – auf Deutsch „frei und stark“ – gegründet. Wie helfen Sie Männern, die pornosüchtig sind?
Unsere Begleitung basiert auf zwei zentralen Bereichen. Der erste: Wir schauen auf die Ursachen hinter dem Pornokonsum. In etwa 90 Prozent der Fälle geht es nicht um Sexualität, sondern um Bedürfnisse wie Einsamkeit, Stress oder Frustration. Häufig liegen die Auslöser in vernachlässigten Grundbedürfnissen: zu wenig Schlaf, Essen, Wasser oder Überforderung. Die Klienten lernen, ihre Gefühle frühzeitig wahrzunehmen und sich zu fragen: Wie geht es mir körperlich, emotional und sexuell? Außerdem ist es wichtig zu akzeptieren, dass unerfüllte Bedürfnisse zum Leben dazugehören.
Der zweite Bereich: Wir müssen neue Denkmuster schaffen. Ich vergleiche das gern mit einer fünfspurigen Autobahn: Wir müssen manche Spuren abreißen, und neue bauen. Dafür nutze ich Methoden aus der Verhaltenstherapie, die ich speziell für den Ausstieg aus der Pornografie angepasst habe.
Zentral ist die Rechenschaft: Meine Klienten schicken mir jeden Abend ein kurzes Lebenszeichen per WhatsApp, meist mit einem Daumen-hoch-Emoji, ob sie pornofrei waren. Bei einem Rückfallrisiko dürfen sie mich anrufen – und das rund um die Uhr. Allein dieses Wissen hilft vielen schon enorm.
IDEA: Wie lange begleiten Sie Ihre Klienten?
In der Regel sechs Monate. Wir haben etwa alle sieben Tage einen Zoom-Call. Je nachdem wie der Stand ist, führe ich dann noch einmal im Monat ein Gespräch mit ihnen.
IDEA: Gibt es bei Pornosüchtigen auch hoffnungslose Fälle?
Nein, auch wenn fast alle meiner Klienten sich zu Beginn des Coachings als hoffnungslos ansehen. Ich hatte mal einen Klienten, der über 20 Jahre heimlich konsumiert hat. Er war verheiratet. Als seine Frau davon erfuhr, kam es zur Scheidung. Ich durfte ihn begleiten, und seit vergangenem September ist er komplett pornofrei. Wenn jemand bereit ist, an sich zu arbeiten, dann ist Veränderung möglich.
IDEA: Was sagen Sie jemandem, der glaubt: „Ich habe Gott zu oft enttäuscht – für mich gibt’s keine Hoffnung mehr“?
Da halte ich den Bibelvers aus 1. Johannes 1,9 dagegen: „Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit.“ Dieses „alle Ungerechtigkeit“ schließt auch den Konsum von Pornografie mit ein. Die Bibel macht deutlich: Gott will vergeben – und er kann vergeben. Jesus ist für unsere Schuld am Kreuz gestorben. Wir dürfen zu ihm zurückkommen. Das ist der erste Schritt.
Der zweite Schritt findet sich in Jakobus 5,16: „Bekennt einander eure Sünden und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet! Viel vermag das Gebet eines Gerechten, wenn es ernstlich ist.“ Ich empfehle daher eine Rechenschaftspartnerschaft – also eine vertrauensvolle Beziehung zu einer Person des gleichen Geschlechts, mit der man ehrlich über seine Herausforderungen sprechen und gemeinsam beten kann. Aus meiner Sicht ist das ein ganz wesentlicher Teil von Jüngerschaft: gemeinsam unterwegs sein, einander helfen und in der Beziehung zu Jesus wachsen. Und das gilt nicht nur im Bereich Sexualität. Jeder Mensch hat seine eigenen Baustellen – der eine kämpft mit Neid, der andere mit Stolz. Leider habe ich oft erlebt, dass manche Kirchen sexuelle Unreinheit stärker gewichten, als zum Beispiel Lästern. Doch im Timotheusbrief lesen wir, dass Paulus Männer aus der Gemeinde ausgeschlossen hat, weil sie gelästert haben.
IDEA: Sie sind als ordinierter Pastor viel in Deutschland im Predigtdienst unterwegs. Wie nehmen Sie das Thema in Kirchen wahr?
Es ist sehr schambehaftet. Manche Kirchen haben noch nie darüber gesprochen. Das ist schade, denn Gott hat uns als sexuelle Wesen geschaffen. Ich erlebe aber auch, dass manche Kirchen Selbsthilfegruppen gründen. Das ist schön. Gemeinden müssen sich dem Thema stellen und vor allem ein positives Bild von Sexualität geben.
IDEA: Vielen Dank für das Gespräch!
Sebastian Buss (36) lebt mit seiner Frau auf der Schwäbischen Alb. Als „Pornocoach“ betreibt er die Beratungsstelle „Free & Strong“ für Männer. Mehr Infos unter: freeandstrong.de
