Die anglikanische „Church of England“ (Kirche von England) wirbt seit 15 Jahren mit kreativen Aktionen und Gemeindegründungen um neue Mitglieder. Diese „freshX“-Projekte (Abkürzung für „fresh expressions of church“ – neue Ausdrucksformen von Kirche) gelten auch als Vorbild für die Kirchen in Deutschland. Doch auf der Insel hält der Abwärtstrend von Glauben und Gottesdienstbesuch unvermindert stark an. idea-Redakteur David Wengenroth fragt: Kann „freshX“ die Kirche retten?
Die altehrwürdige Kathedrale von Norwich im Osten Englands hat in ihrer rund 900-jährigen Geschichte schon vieles gesehen, aber das war neu: Anfang August wurde im Langhaus des romanischen Gotteshauses eine 16 Meter hohe Jahrmarktrutsche namens „Helter Skelter“ (Holterdiepolter) aufgestellt. Elf Tage lang konnten Besucher jauchzend die 46 Meter lange Rutschbahn hinuntersausen. Rund 10.000 Menschen nutzten diese Möglichkeit. Im Abschlussgottesdienst unternahm sogar der anglikanische Bischof von Lynn, Jonathan Meyrick, in vollem Ornat eine Rutschpartie auf der Kirmesattraktion.
Das Bild vom abwärtssausenden Kirchenleiter könnte bald eine Symbolkraft entwickeln, die Meyrick kaum recht sein dürfte. Denn auf schwindelerregend schneller Talfahrt befindet sich auch die Bedeutung von Christentum und Kirche auf der britischen Insel. Das wird nicht so gnadenlos von Statistiken offengelegt, wie man es hierzulande gewohnt ist, denn die Church of England hat ein völlig anderes Verständnis von Mitgliedschaft als die deutschen Kirchen. Es gibt weder eine Kirchensteuer noch ein Mitgliederverzeichnis. Zur Kirche zählt, wer sich selbst als Kirchenmitglied bezeichnet. Doch auf diesem Gebiet sprechen die Ergebnisse von Umfragen eine deutliche Sprache.
Mitgliederzahl hat sich halbiert
Im September 2018 meldete das Meinungsforschungsinstitut NatCen (London), der Anteil der Briten, die sich selbst als Mitglied der Kirche von England bezeichnen, sei auf einen historischen Tiefstand gefallen. Ihre Zahl hatte sich seit 2002 mehr als halbiert – von 31 auf 14 Prozent. Besonders steil war der Absturz in der Altersgruppe der 45- bis 54-Jährigen: Bei ihnen sank der Anteil der Kirche-von-England-Bekenner von 35 auf elf Prozent. Noch beunruhigender waren allerdings die Umfrageergebnisse in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen: 70 Prozent von ihnen gaben an, überhaupt keine Religion zu haben (2002: 56 Prozent). Als Mitglied der Kirche von England bezeichneten sich gerade mal noch zwei Prozent (!) der jungen Erwachsenen – im Vergleich zu neun Prozent im Jahr 2002. Die Umfrage zeigte, dass Religion auf der Insel ohnehin keinen hohen Stellenwert mehr hat: 52 Prozent der Befragten gaben an, überhaupt keine Religion zu haben (2002: 41 Prozent). Aber selbst im Kreis der ohnehin schwach vertretenen Glaubensgemeinschaften stand die ehrwürdige Church of England besonders schlecht da: Die Anteile von Katholiken (acht Prozent), anderen christlichen Konfessionen (18 Prozent) und nichtchristlichen Religionen (acht Prozent) waren seit 2002 wenigstens stabil geblieben.
Junge Generation ohne Glauben
Der Prozess der Entkirchlichung wird sich beschleunigen, glaubt der anglikanische Pfarrer Martin Reakes-Williams. Der englische Geistliche wurde in den 1990er Jahren von seiner Kirche ausgesandt, um in Leipzig eine englischsprachige Gemeinde zu gründen. Früher seien die meisten Menschen auf der Insel zwar auch nicht in den Gottesdienst gegangen, aber sie fühlten sich mit der Kirche verbunden, sagt er. Viele Engländer bezeichneten sich sogar als Kirchenmitglieder, obwohl sie nicht einmal getauft waren. Doch vor allem Jugendlichen fehle heute meistens nicht nur diese Bindung, sondern jeder Bezug zu Religion überhaupt. „Da wächst eine Generation heran, die mit Kirche und Glauben überhaupt nichts mehr anfangen kann“, meint der Geistliche.
Auf die Frage nach den Ursachen gibt es – ähnlich wie in Deutschland – keine einfache Antwort. Im Jahr 2001 erregte der Historiker Callum G. Brown (Glasgow) Aufsehen mit seinem Buch „The Death of Christian Britain“ (Der Tod des christlichen Britannien). „Großbritannien zeigt der Welt, wie die Religion in ihrer bisher bekannten Form sterben kann“, schrieb Brown. Die entscheidende Ursache dafür sah er in der kulturellen Revolution der 1960er Jahre. Seine These: Über Jahrhunderte hinweg seien es in der britischen Gesellschaft vor allem die Frauen gewesen, die das Rückgrat der Institution Kirche bildeten und ihre Moralvorstellungen bestimmten. In den 1960ern aber habe eine ganze Generation junger Frauen die Lebensentwürfe und Denkmuster ihrer Mütter und Großmütter über den Haufen geworfen. Die Folgen seien der Verfall christlicher Werte in der Gesellschaft und der Bedeutungsverlust der traditionellen Kirche.
Traditionen funktionieren nicht mehr
Der emeritierte Bischof John Finney sieht die Ursache eher darin, dass die Kirche viele Menschen mit ihrer Botschaft nicht mehr auf den traditionellen Wegen erreicht. Der Geistliche war in den 1990er Jahren Beauftragter für das von der Anglikanischen Kirche ausgerufene „Jahrzehnt der Evangelisation“. Vor allem durch die neuen Medien veränderten sich die Lebensbedingungen und -gewohnheiten der Menschen radikal, erklärte er vor kurzem in einem Vortrag. „Ich kann heute über das Internet mit meinem Freund in Nepal schreiben, die Einwohnerzahl von Turkmenistan herausfinden und die neusten Fußballergebnisse bekommen.“ Das habe weitreichende soziale Konsequenzen. Das Leben vieler Menschen – vor allem in der jungen Generation – spiele sich heute im Internet ab. „Unsere jungen Leute haben sich verändert“, sagte Finney. „Einige von ihnen verlassen kaum noch das Haus. Sie bekommen alles, was sie brauchen, ohne vor die Tür zu gehen.“ Für die Kirche stelle sich die Frage: „Spricht eine normale Predigt am Sonntagmorgen in der Kirche jene Menschen an, die viele Stunden am Tag damit verbringen, auf einen Bildschirm zu schauen?“
Gottesdienste in Bars und Bädern
Aber wenn es nicht mehr auf den traditionellen Wegen funktioniert – auf welchen dann? Das herauszufinden ist Ziel der „freshX“-Bewegung. 2004 verabschiedete die Generalsynode der Church of England das Positionspapier „Mission-shaped Church“ (dt. Titel: Mission bringt Gemeinde in Form), in dem der Begriff „Fresh Expressions of Church“ geprägt wurde. Die Bischöfe machten den Weg frei für Experimente. Seitdem schießen die neuen Ausdrucksformen wie Pilze aus dem Boden: Kletter- und Brotback-Kirchen, „Caféthralen“. Gottesdienste werden in Bars, Schulen, Schwimmbädern und Fitnessstudios gefeiert. In alten Gotteshäusern werden Friseurstühle, Billardtische und Minigolf-Anlagen aufgebaut. Zur Bewegung zählen kirchliche Hilfsgruppen für Asylsuchende und sozial Benachteiligte ebenso wie Nachbarschaftsprojekte in sozialen Brennpunkten und Kunstaktionen. Der Evangelisationsexperte Klaus Teschner, der die Entwicklung der englischen Kirche seit den 1980er Jahren beobachtet, schätzt die Gesamtzahl der Initiativen auf 5.000. Der frühere Leiter des Volksmissionarischen Amtes (heute: Amt für Gemeindeentwicklung und missionarische Dienste) der rheinischen Kirche begann schon in den 80er Jahren, die Entwicklung der englischen Kirche intensiv zu beobachten. Er glaubt, dass „freshX“ die altehrwürdige Church of England grundlegend verändern wird. Teschner: „Man kann aus einer Wildblumenwiese nicht wieder eine Plantage machen.“
Reakes-Williams, der sich als evangelikaler Christ versteht, schaut mit gemischten Gefühlen auf die bunte „freshX“-Vielfalt. „Das sind alles gute Möglichkeiten, Menschen neugierig zu machen“, meint er. „Aber nicht alle diese Projekte sind Gemeinde im biblischen Sinne.“ Gemeinde bedeute schließlich nicht nur eine lockere Zusammenkunft, sondern Verbindlichkeit und Engagement. Bei vielen der kreativen Aktionen gehe es auch zu sehr darum, viele Gottesdienstbesucher anzulocken – und zu wenig darum, wirklich das Evangelium zu verkündigen.
Missionarische Gemeinden wachsen
Besonders aufmerksam verfolge die Kirche Gemeindegründungsprojekte, erklärte Finney. Denn einige von ihnen wachsen beeindruckend schnell. Als Paradebeispiel gilt die Gemeinde Holy Trinity (Heilige Dreifaltigkeit) im Londoner Stadtteil Brompton – eine evangelikal-charismatische Gemeinde mit modernen Lobpreis-Gottesdiensten, sozialen Hilfsprojekten, Glaubenskursen und einer missionarischen Orientierung. Sie sendet immer wieder Gemeindegründungsteams an andere Orte aus, die sie mit jeweils 55.000 Euro Startkapital ausstattet. In den vergangenen 20 Jahren hätten 60 Gruppen mit insgesamt Hunderten von Mitgliedern die Gemeinde verlassen. „Eine ganze Reihe von diesen Neugründungen sind selbst so stark gewachsen, dass sie in der Folge ihrerseits Gründungsteams ausgesandt haben“, berichtet Finney. Insgesamt liege der Mitgliederzuwachs in den Tochtergemeinden bei 257 Prozent. „Ein Team in Bournemouth in Südengland startete mit elf Erwachsenen, drei Kindern und einem Baby. Jetzt hat die Gemeinde 500 Besucher, von denen 200 unter 20 Jahren alt sind.“
Solche Erfolge machen Hoffnung – auch wenn in den meisten anderen Gemeinden der Kirche von England die Gemeindeversammlungen und Gottesdienste weiterhin immer leerer werden. Es spreche nicht gegen „freshX“, dass es diese Entwicklung nicht aufhalten könne, meint Teschner. „Es ging bei dieser Bewegung nie darum, die etablierte Kirche zu retten.“ Letztlich müssten Christen – in England wie auch anderswo – lernen, „dass auch kleine Versammlungen Kirche sind“.
Die Kirche von England entstand zur Zeit der Reformation 1534 in England. Weltweit zählt sie etwa 77 Millionen Mitglieder. Außerhalb Englands gibt es 38 anglikanische Nationalkirchen. Der englischen Mutterkirche steht die Königin als weltliches Oberhaupt vor. Geistliches Oberhaupt – Primas der Kirche von England sowie Ehrenoberhaupt der anglikanischen Weltgemeinschaft – ist der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby. Obwohl die Kirche von England eine Staatskirche ist, erhält sie keine Gelder vom Staat, sondern finanziert sich durch Spenden ihrer Mitglieder und Einnahmen aus ihrem Kirchenvermögen.