Es ist überbordend, überwältigend und mit fünfeinhalb Stunden erschöpfend lang – und gleich vorweg: Ja, man sollte dieses grandiose Theaterspiel einmal gesehen haben. Es zeigt die letzten Tage Christi – von seinem Einzug nach Jerusalem, Gefangennahme und Verhör bis zu Kreuzigung und Auferstehung. Und es zeigt es so, dass man ins Nachdenken und Staunen kommt. Von der Premiere berichtet IDEA-Reporter Karsten Huhn.
Dabei gibt es mehr zu schauen, als die Augen bewältigen können: Bei den Massenszenen stehen bis zu 800 Darsteller und Musiker auf der Bühne, Kinder flitzen herum, und inmitten all des Gewimmels finden auch noch Schafe, Ziegen, Tauben und Kamele Platz. Statthalter Pontius Pilatus reitet auf einem prächtigen Pferd ein, die römischen Soldaten marschieren mit Brustpanzer, Helmen und Lanzen über die Bühne, der Hohe Rat trägt Festgewänder. Bemerkenswert ist die hohe Gesangsqualität der Gesangssolisten und des Volkschors. Man käme nicht auf die Idee, dass hier größtenteils keine Berufsmusiker, sondern Laien am Werk sind.
Nah an der Bibel
Christian Stückl, seit 1987 Spielleiter in Oberammergau, ist ein leidenschaftlicher Theatermann, liberaler Katholik und Kettenraucher. Erst nach einem Herzinfarkt Anfang des Jahres hat er das Qualmen aufgegeben. Wie bei den vorangegangenen Aufführungen hat Stückl auch diesmal zahlreiche Veränderungen am Text vorgenommen, er bleibt dabei aber recht nah an der Bibel. Man merkt dem Stück an, dass es auch vom Krieg in der Ukraine inspiriert ist. Von Kriegsgeschrei und Soldatenstiefeln, vom Joch der Römer und vom Blutvergießen ist die Rede. Der ohnehin schon finstere Stoff wirkt diesmal – unterstützt vom düsteren Bühnenbild – noch dunkler. So wird das letzte Abendmahl nicht in fröhlicher Zechstimmung gefeiert, sondern grau in grau als niedergedrücktes, todernstes Abschiedsmahl. Ganz selten erlaubt sich das Stück sanfte Ironie. So kündigt Jesus an, dass Petrus ihn dreimal verleugnen werde – noch ehe der Hahn gekräht habe. Da antwortet Petrus mit einem verständnislosen „Hä?“.
Ein kämpferischer Christus
Schauspieler Frederick Mayet spielt einen charismatischen, aufbrausenden und kämpferischen Christus. Er ist kein sanftmütiger Leisetreter, sondern ein herausfordernder Lautsprecher, der die Ungerechtigkeiten dieser Welt anprangert und im Streit mit den Schriftgelehrten vor schweren Vorwürfen („Ihr blinden Führer“) nicht zurückschreckt. Viel direkte Jesus-Rede ist hier zu hören. Es fühlt sich an, als würde man 20 Predigten an einem Tag hören.
Zahlreich sind die Referenzen an den jüdischen Glauben. So singt der Chor manchmal auf Hebräisch, und auch einzelne Bibelverse werden in der Sprache Israels zitiert. Dazu kommen die lebenden Bilder mit Szenen aus dem Alten Testament, die die Passionshandlung unterbrechen. Wie eingefroren verharren die Darsteller. Die Bilder zeigen etwa den Propheten Daniel in Babylon und die Verspottung des Hiob und zeigen so Querverbindungen zwischen Altem und Neuem Testament auf. Am eindrücklichsten ist die riesige eherne, rotglitzernde Schlange, die sich um Moses Kreuz windet.
Die zwei, die Jesus verraten haben
Eine starke Rolle hat Spielleiter Stückl dem Judas (Cengiz Görür) auf den Leib geschrieben. Der hasst die Römer und wünscht sich von Jesus, dass dieser Widerstand leistet und nicht auf eine Zukunft vertröstet, „die mir zu weit und in dunkler Ferne liegt“. Dem Feind die andere Wange hinhalten? Judas zieht das „Auge um Auge“-Prinzip vor. Dass Judas Jesus verrät, erscheint in diesen Passionsspielen als großes Missverständnis. Stückl zeigt einen leidenden Judas, der seinen Verrat bitterlich bereut. Dabei ist Petrus (Martin Güntner) ebenso ein Verräter wie Judas. Doch der eine wird später Kirchenleiter, der andere weiß am Ende keinen anderen Ausweg, als den Strick um seinen Hals.
Eine lästige Personalie
Heimlicher Held dieser Passion ist Josef von Arimathäa (Walter Rutz). Der Hohe Rat trifft sich zur Krisensitzung, auf der Tagesordnung steht die lästige Personalie Jesus von Nazareth. Josef spricht sich für Jesu Unschuld aus, er kann sich aber gegen die Priester Hannas und Kaiphas nicht durchsetzen. Sie versuchen, Statthalter Pontius Pilatus für ihre Zwecke einzuspannen. Kaiphas liebedienert vor Pontius Pilatus, damit dieser die Todesstrafe verhängt. Pilatus zeigt sich an den innerjüdischen Konflikten zunächst wenig interessiert. Doch auf Jerusalems Gassen gibt es Aufruhr. Das Volk ist uneins. Auf der einen Seite stehen die Priester, auf der anderen Seite die Jesus-Anhänger, angeführt von Josef von Arimathäa. „Er sterbe!“, rufen die einen. „Jesus ist ohne Schuld!“, die anderen. Fast kommt es zum Straßenkampf. Pilatus hat genug gesehen. Unter dem Druck der Masse wandelt er seinen Freispruch in ein Todesurteil. So ist Jesu Leidensweg nicht nur ein Mysterium, sondern auch Ränkespiel, Schauprozess und Justizskandal. Eine enthemmte Meute macht sich über Jesus her. Von den römischen Soldaten wird er verspottet, bespuckt, geschlagen und gegeißelt. Pilatus‘ Frau versucht erfolglos, die grausame Folter zu beenden. Mit letzter Kraft schleppt Jesus sein Kreuz zum Galgenhügel.
Das größte aller anzunehmenden Wunder
Etwas lustlos gerät das Ende der Passion. Das liegt zum einen daran, dass die Auferstehung eines Toten eigentlich nicht darstellbar ist. Aber die Frauen am Grab scheinen auch weder besonders verschreckt noch erstaunt, als sie das Grab des Gekreuzigten leer vorfinden. Die Beglaubigung des schier Unglaublichen übernimmt der Schlusschor. Er jubelt seine Hallelujas in höchste Höhen, so dass klar wird: Hier ist gerade das größte aller anzunehmenden Wunder geschehen.
Oberammergauer Passionsspiele 2022
• Die 42. Oberammergauer Passionsspiele finden vom 14. Mai bis 2. Oktober statt.
• Geplant sind 103 Aufführungen; gespielt wird fünfmal die Woche.
• Das Passionsspiel fand erstmals 1634 statt. Es geht auf ein Gelübde von 1633 zurück. Damals schworen die Bewohner, regelmäßig das Leiden und Sterben Christi aufzuführen, sofern niemand mehr an der Pest stirbt.
• Spielort war anfangs der Friedhof von Oberammergau. 1830 wurden die Spiele auf Geheiß von Bayerns König Ludwig I. an den Nordrand des Dorfs verlegt.
• Das Passionsspiel wurde 2014 von der UNESCO in die Liste des Immateriellen Erbes der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen.
• Das Passionsspieltheater bietet Platz für rund 4.300 Besucher.
• Oberammergau hat rund 5.500 Einwohner. Jeder der 2.000 Mitwirkenden ist in Oberammergau geboren oder lebt – mit Ausnahme der Kinder – mindestens seit 20 Jahren dort. Neben den Schauspielrollen wirken die Oberammergauer in Chor und Orchester mit, engagieren sich im Einlassdienst oder als Garderobieren.
• Die 20 Hauptrollen sind doppelt besetzt. Zudem gibt es weitere 120 Sprechrollen.
• Erwartet werden 450.000 Zuschauer aus aller Welt.
• Die Passionsspiele sind für die Gemeinde Oberammergau auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Zu den Einnahmen aus dem Theater kommen Umsätze in Hotels, Gaststätten und Geschäften. 2010 bescherten die Spiele der Kommune einen Rekordgewinn von 37,9 Millionen Euro.
• 2010 lag die Auslastung des Theaters bei 99,8 Prozent. In diesem Jahr sind bisher erst 75 Prozent der Karten verkauft.