(“Adventisten heute”-Aktuell, 19.8.2011) Die Gesetze zum Verbot der Ganzkörperverschleierung in der Öffentlichkeit, die im Frühjahr 2011 in Frankreich und Belgien in Kraft getreten sind, genießen nicht nur bei der Bevölkerung in den betroffenen Ländern große Zustimmung, sondern in ganz Europa, schreibt Pastor Dr. John Graz (Silver Spring, Maryland/USA) in einem Kommentar für Adventist News Network.
Würde und Gleichheit der Frauen schützen?
Laut Staatspräsident Nicolas Sarkozy richte sich das Burkaverbot nicht gegen die Religionsfreiheit, sondern versuche die Würde und Gleichheit der Frauen in Frankreich zu schützen. Es sei aber allen klar, meinte Graz, dass dabei ein starkes politisches Kalkül mitschwinge.
“Europa hat im Umgang mit religiösen Minderheiten eine wechselvolle Geschichte”, schreibt Graz, Direktor für Öffentliche Angelegenheiten und Religionsfreiheit der Generalkonferenz (Weltkirchenleitung) der Siebenten-Tags-Adventisten. “Es genügt die Erwähnung des berüchtigten französischen âAnti-Sekten-Gesetzesâ aus dem Jahr 2000, mit dem die Behörden langjährig etablierten und breit anerkannten Glaubensgemeinschaften ihre Rechte verweigerten, oder mit dem das Verbot von Kopftüchern an öffentlichen Schulen durchgesetzt worden ist.”
Mit Religion zu tun?
Den Volksentscheid der Schweizer Stimmbürger, die 2009 in einem Referendum den Bau von Minaretten verboten hätten, habe der Französische Außenminister Bernard Koucher als “intolerant” bezeichnet und gesagt, dies laufe auf “religiöse Unterdrückung hinaus”, so der Experte für Religionsfreiheit. Im Fall des Verbots des Ganzkörperschleiers bestehe die Regierung von Nicolas Sarkozy aber darauf, dass dieses nichts mit Religion zu tun habe. Bei der Interpretation, ob es sich bei der Burka um ein religiöses Symbol handle oder ob diese für die Unterdrückung der Frau stehe und ob Frauen die Burka freiwillig oder gezwungenermaßen trügen, gingen die Meinungen diametral auseinander, so Graz, der selbst in Frankreich aufgewachsen ist.
Nachdenkenswerte Fragen
Laut dem Religionsfreiheitsexperten sollten beim Verbot des Ganzkörperschleiers folgende Überlegungen in Betracht gezogen werden:
- Grenzen der Religionsfreiheit . Es gäbe die Auffassung, dass ein demokratischer Staat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht habe, religiöse Ausdrucksformen dann zu begrenzen, wenn diese zentrale kulturelle oder gesellschaftliche Werte verletzten. Wenn das Burkaverbot im Namen der Religionsfreiheit zurückgenommen werde, könne mit der Religionsfreiheit auch die Polygamie oder das Steinigen jener gerechtfertigt werden, die ihre Religion gewechselt hätten. Für Graz sei klar, dass der Staat irgendwo eine Linie ziehen müsse.
- Freiwilligkeit und Zwang . Es gäbe auch Frauen, die völlig ohne Druck aufgrund ihrer eigenen religiösen Überzeugung und freiwillig eine Burka tragen würden. Diese zwinge der französische Staat mit dem Burkaverbot gegen ihren Willen und ihre Überzeugung zu handeln.
- Kultur und Integration . Außerdem sollte der Themenkreis “Kultur” und “Integration” berücksichtigt werden. Graz verstehe zwar die Sorge der Franzosen bezüglich der Integration, sodass sie diese als Hauptgrund für das Burkaverbot anführten. Wenn aber kulturelle Veränderungen per Gesetz verordnet würden, sei das ein sehr gewagtes Unterfangen, unter dem nur zu oft die grundlegenden Menschrechte litten.
- Entscheidungskompetenz . Hinzu komme die Frage, wer Schiedsrichter sein solle, um zwischen konkurrierenden gesellschaftlichen oder kulturellen Werten zu vermitteln. Wer dürfe entscheiden, welche Werte gefördert und geschützt oder welche aufgehoben werden müssten? Was sollte geschehen, wenn eine religiöse Praxis mit einem anderen kulturellen Wert kollidiere?, fragt der Experte. “Soll per demokratische Mehrheitsentscheidung festgelegt werden, wer der âGewinnerâ ist? Oder sind dabei grundlegendere Überlegungen zu berücksichtigen?”
Integrationsverständnis
Laut Graz ziele die Burkagesetzgebung auf die sechs Millionen Muslime in Frankreich ab. Gemäß Schätzungen gebe es in Frankreich rund 2.000 Burkaträgerinnen, in Belgien sollen es 270 sein. Graz geht davon aus, dass diese Gruppe nicht per Gesetz zur Integration gezwungen werden könne. Das gelinge nur durch Bildung, Ermutigung und viel Zeit.
Die Franzosen verstünden unter Integration: “Wenn du mit uns leben willst, dann lebe, wie wir leben.” Die amerikanische Gesellschaft habe einen etwas weniger anspruchsvollen Integrationsansatz: “Wenn sie sich uns anschließen wollen, können sie ihre Traditionen und ihre Religion behalten, aber sie müssen unsere Gesetze befolgen.”
Die Neigung zu Furcht oder Abneigung gegenüber Andersartigem oder Unbekanntem, sei aber nicht nur eine französische oder belgische Tendenz, sondern eine grundsätzlich menschliche. Religionsfreiheit habe einen Preis und beinhalte auch einige Risiken, unterstrich Pastor Graz. Letztlich bringe aber ein Land, das seine Minderheiten zu schützen versuche, eine weniger polarisierte und damit letztlich auch freiere Gesellschaft hervor. (APD)