Deutschlandweit sind viele Pfarrer am Rande der Erschöpfung. Manche tauschen die Kanzel gegen eine Tätigkeit in der freien Wirtschaft. Wie kann die Kirche ein Vorreiter in der Fürsorge für die eigenen Mitarbeiter werden? Von IDEA-Redakteurin Julia Ber
Als Jan Thomas Otte vor zwei Wochen noch einmal seine Bahnen über das Eis des Bodensees ziehen will, gibt die glitzernde Fläche unter den Schlittschuhen plötzlich nach. Der Wetterumschwung hatte das Eis schneller brüchig werden lassen, als er vermutet hatte. „Als mein Fuß nach unten wegsank, dachte ich: Das ist total sinnbildlich für die Situation, die du im letzten Jahr erlebt hast“, sagt Otte. Der See sei an der Stelle zwar nicht tief, aber sumpfig. Fünf Versuche habe er gebraucht, um den Fuß aus dem Schlick zu ziehen: „Von außen sah das Eis noch schick aus. Ich habe zunächst ein gutes Tempo draufgehabt. Durch meine Geschwindigkeit hat sich der Druck besser verteilt. Dann wurde ich langsamer und bin eingebrochen. Genauso ist es mir im Beruf ergangen.“ Bei einer 60-Stunden-Woche habe man gar keine Zeit zu merken, dass das eigene Fundament brüchig wird. „Aber irgendwann kommt die eine Lappalie, das eine Gespräch, das dich plötzlich ausbremst, und du krachst ein.“
Ausgebremst von den Strukturen
Otte war fünf Jahre lang evangelischer Pfarrer in Konstanz. Leidenschaftlich gerne. Nach dem Theologiestudium zog es ihn zunächst zwar in die freie Wirtschaft: Mit der Familiengründung kam aber der Wunsch nach dem Pfarrberuf. Die erste Zeit in der Gemeinde sei wunderschön gewesen. Er habe Ideen gehabt, wollte Dinge verändern: „Ich habe viel investiert in der Hoffnung, dass sich das irgendwann auszahlt.“ Der Aufgabenberg schien aber an vielen Tagen zu riesig. Er habe versucht, sich Freiheiten zu schaffen, um kreativ zu sein und Akzente setzen zu können. Weiße Sneaker mit bunten Socken unter dem Talar – das war das Ding des 40-Jährigen. Eine muntere Kirche mit weniger Konventionen. Das kam allerdings nicht nur gut an: „Mir wurde bedeutet, unter die Allmacht des Talars passten nur schwarze Schuhe.“ Ausgebremst von einem starren Pfarrbild, gepaart mit strukturellen Problemen, die kaum Flexibilität zuließen. Auch seine Familie habe unter der Situation gelitten, sagt Otte. Schließlich habe er sich entschieden, als Pfarrer in den Schuldienst zu wechseln. Im Juli 2023 hielt er seinen letzten Gottesdienst. „Im ersten Moment unmittelbar danach habe ich sehr an mich halten müssen, meine Entscheidung aufrechtzuerhalten.“ Danach habe ein fünfmonatiger Trauerprozess begonnen, so Otte: „Zum Jahreswechsel konnte ich meiner Frau endlich sagen: Jetzt bist du dran mit deinen Zielen und Wünschen. Ich komme wieder klar.“
Probleme unter einem frommen Deckmantel
Auch Patrick Senner hat sich entschieden, den Talar erst mal an den Nagel zu hängen. Seit 2017 war er als Pastor für verschiedene innerkirchliche Kinder- und Jugendverbände in Niedersachsen unterwegs. Ab März wird der 32-Jährige sich gemeinsam mit Freunden freiberuflich einem künstlerischen Projekt widmen. Vor sechs Jahren habe er als „leidenschaftlicher Theologe, Liebender und Menschenfan“ begonnen: „Ich hatte richtig Bock, mit Jugendlichen die Welt zu erobern und im Glauben ganz nah am Leben dran zu sein: freier, weiter, ehrlicher.“ Als Reisepastor habe er mehr als 75 Gemeinden in Deutschland begleitet. Er war immer auf Zack, immer am Puls der Zeit. „Irgendwann dämmerte es mir, dass in unseren Strukturen ähnliche Denkmuster und Schemata vorherrschen wie im Rest der Gesellschaft. Bloß subtiler, vielleicht unter einem frommen Deckmantel. Es ging immer um Dinge wie: Wer viel macht, wird anerkannt. Wer viele Umdrehungen hat und laut ist, steht oben.“ Senner fühlte sich zunehmend gefangen und überfordert in diesem System. Es habe trotzdem Jahre gedauert, bis er öffentlich darüber reden konnte: „Viele, die versucht haben, sich dagegen zu wehren, wurden milde belächelt oder als ,nicht so belastbar‘ abgestempelt.“
Die Kirche liegt im Krankenbett
Senner beschreibt seine Kirche als „System, das im Krankenbett liegt“. Es sei überlastet und ziellos und kranke an der Haltung „wir wurschteln uns da irgendwie mal wieder durch und pfropfen gelegentlich halbherzig etwas Neues wie Social Media oder KI auf, bleiben aber eigentlich beim Alten“. Er habe sich oft wie in einem Dauerkrampf gefühlt und viel versucht, um das Problem zu lösen. Mit wenig Erfolg. „Jetzt muss ich erst mal mich aus dieser Verkrampfung lösen“, sagt Senner. Sonst gehe es mit der seelischen Gesundheit weiter bergab.
Den Mitarbeitern fehlt der Rückenwind
Bislang gibt es wenige Studien, die die Burn-out-Gefahr und die psychischen Belastungen kirchlicher Mitarbeiter beleuchten. Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland hat 2020 zusammen mit der Universität Greifswald ihre Geistlichen befragt. Das Ergebnis war alarmierend: Fast jeder achte Pfarrer ist von einem Burn-out betroffen. Ein weiteres Drittel zählt zu einer Gruppe mit einem erhöhten Risiko, psychisch zu erkranken. Als Gründe benannten die Befragten unter anderem die fehlende Privatsphäre, zu viele verschiedene Aufgaben und zu wenig Zeit für das eigene geistliche Leben.
„Wer für etwas brennt, kann auch ausbrennen“, sagt Christoph Pistorius. Er ist Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Leiter der Personalabteilung im Landeskirchenamt. Wer für die Kirche arbeite, habe in der Regel eine sehr hohe Identifikation mit seinem Beruf. Gleichzeitig schwinde die Relevanz von Kirche in der Gesellschaft zunehmend: „Der Rückenwind für die Mitarbeiter fehlt. Es kostet mehr Energie, dieses Amt zu tragen.“ In seinen Augen ist die unzureichende Trennung von Beruflichem und Privatem eines der größten Probleme. Neu sei das aber nicht, betont Pistorius: „Die, die jetzt in den Ruhestand gehen, haben in einer Kirche gearbeitet, die ein Überangebot an Pfarrpersonen hatte. Sie haben immer um die Stellen konkurriert und sich deswegen nicht getraut, auch mal ,Ich‘ zu sagen. Oder zuzugeben, dass sie etwas nicht so gut beherrschen und es gerne abgeben würden.“ Der Pfarrer habe immer als Alleskönner gegolten. Das sei nun anders. Weniger Fachpersonal, steigende Herausforderungen und eine Generation, die über die eigenen Grenzen spreche, hätten in den letzten Jahren einiges verändert. Pistorius: „Es ist ein offeneres Klima entstanden. Die jüngeren Pfarrerinnen und Pfarrer wissen, dass sie von Anfang an auf ihre Ressourcen achten müssen, wenn sie bis 2060 durchhalten wollen.“
Aufgabenkatalog, Coaching und Freizeit
In der rheinischen Kirche bemühe man sich, entsprechende Entlastungen zu schaffen: Ein klarer Aufgabenkatalog helfe gegen Überforderung. „Wir können mit weniger Menschen nicht noch mehr machen“, sagt Pistorius. Stärker in Teams zu denken, um Dinge abzugeben, die einem nicht liegen, sei auch eine Möglichkeit: „Es gibt trotzdem noch genug Basics, um die man nicht herumkommt.“ Pfarrerinnen und Pfarrer brauchten zudem Zeit für Fortbildungen sowie für die eigene Spiritualität: „Ich kann nicht nur die Bibel für meine Gemeindearbeit lesen. Ich muss sie auch für mich selbst lesen und den lebendigen Kontakt zu Gott pflegen.“ Im Rheinland gibt es inzwischen einen Rechtsanspruch auf Supervision und Coaching. Ob alle Kirchenvorstände und Presbyterien ihren Geistlichen diese Möglichkeiten ans Herz legen? Christoph Pistorius hofft es. Obwohl er weiß, dass die aktiven Gemeindemitglieder auch in einer Drucksituation agieren: „Sie wollen das Gemeindeleben bei sinkender Bedeutung und fehlenden Ressourcen am Leben halten. Da kann ich mir schon vorstellen, dass auch mal jemand im Presbyterium robust auftritt. Alle müssen aufpassen, die anderen nicht aus dem Blick zu verlieren.“
Die Veränderungen kommen spät
Jan Thomas Otte hat die Veränderungsbereitschaft registriert. Aber er sagt auch: „Ich war lange in der Wirtschaft tätig. Die Kirche ist nicht gut gemanagt, und sie ist auch nicht wahnsinnig innovativ. Der Strukturprozess kommt völlig verspätet. Wäre er schon vor ein paar Jahren gelaufen, dann wäre ich wahrscheinlich geblieben.“ Seitdem er seinen Ausstieg aus dem Pfarramt vor zwei Monaten in einem Beitrag für die Regionalzeitung und in den Sozialen Medien öffentlich gemacht hat, haben sich einige bei ihm gemeldet, denen es ähnlich gehe. Aber es habe auch Kritik und Durchhalteparolen gegeben: „Stell dich nicht so an, es ist alles für den Herrn, haben manche gesagt. Oder sie meinten, mit einem gemeinsamen Gebet sei es getan. Aber man kann das nicht wegbeten.“
Wie Kirche werden muss
Damit die Kirche als Arbeitgeber mindestens besser werde als andere, müsse sie sich von ihren alten Vorstellungen verabschieden, sagt Otte: „Die Idee der Vereinskirche der achtziger und neunziger Jahre oder die Idee der Unternehmenskirche aus den 2000er Jahren – das hat alles nichts gebracht. Es braucht jetzt ganz mutige Schritte. Ich träume von einer Start-up-Kirche, die viel mehr ausprobieren kann und wirklich innovativ ist.“ Und Patrick Senner sagt: „Wir brauchen Systeme und Formen, die den Menschen konsequent dienen und niemals umgekehrt. Ich wünsche mir Visionäre für Menschen und nicht für Systeme. Ich wünsche mir, dass Ehren- und Hauptamtliche nicht nur als Werkzeuge Gottes, sondern vor allem und zuerst als Kinder Gottes gesehen und auch so behandelt werden.“ Senner will auf jeden Fall wieder zurückkommen. Es war immerhin eine Berufung: „Ich liebe meine Kirche und möchte für sie kämpfen. Aber jetzt brauche ich ein paar Jahre in einem anderen Umfeld, um zu heilen und neue Verhaltensstrategien zu entwickeln, um so eines Tages wieder in der Kirche arbeiten zu können.“