Durch einen Autounfall verlor der Künstler und Theologe Arne Kopfermann 2014 seine 10-jährige Tochter Sara. Wie hat sich sein Glaube dadurch verändert? Mit Kopfermann sprach idea-Reporter Karsten Huhn.
idea: Herr Kopfermann, Sie möchten „Auf zu neuen Ufern“. Zu welchem Ufer wollen Sie aufbrechen?
Kopfermann: Veränderung ist das Thema meines Buches. Und wenn man so eine Vollkatastrophe erlebt hat, wie wir sie erlebt haben, steht alles auf dem Prüfstand.
idea: Mit der Vollkatastrophe meinen Sie den Tod ihrer 10-jährigen Tochter bei einem Autounfall im Jahr 2014.
Kopfermann: Darauf kann einen niemand vorbereiten. Ich bin behütet aufgewachsen, hatte einen relativ geradlinigen Lebensweg und bis dahin keine größeren Katastrophen erlebt. Nach dem Unfall konnte das Leben nicht so weitergehen wie vorher. Manche Leute denken, dass man die Trauer schon in den Griff bekommt, je mehr Jahre vergehen. Aber es ist eben nicht wie bei einem komplizierten Beinbruch, wo das Bein am Anfang geschient und geschont werden muss, und wenn man das lange genug gemacht hat und auch die Reha hinter sich hat, kann man wieder normal laufen.
idea: Wie würden Sie es beschreiben?
Kopfermann: Es ist wie eine Amputation. Das bedeutet, dass wir zeit unseres Lebens hinkend durchs Leben gehen werden. Dietrich Bonhoeffer schreibt dazu: „Gott füllt die Lücke nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren.“ Das ist eine krasse Aussage, aber ich finde mich darin wieder. Sie haben mich ja gefragt, wohin ich aufbrechen will. Trauer und Schmerz sagen einem, dass nichts so bleiben kann, wie es ist, weil ja nichts mehr so ist, wie es war. Das hat viele Seiten. Eine Seite davon ist, dass meine Frau und ich um unsere Ehe kämpfen mussten. Vier von fünf Ehen zerbrechen nach einem solchen Verlust.
idea: Ihre Frau und Sie haben vermutlich sehr verschieden getrauert.
Kopfermann: Ja, der eine ist oft der Flüchter, der andere der Bewahrer. Der eine geht arbeiten, um sich einen verlustfreien Raum zu schaffen, der andere nimmt die Trauer mitten in seine Arbeit hinein. Der eine möchte es in die Welt hinausschreien – der andere macht das meiste mit sich selbst aus. Wenn man nicht aufpasst, gehen die Wege leicht auseinander. Das alles habe ich vorher nicht geahnt. Ich habe auch nicht gewusst, dass man nicht nur das Offensichtliche betrauert – die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit in der Vergangenheit –, sondern auch all das, was man in der Zukunft nicht mehr miteinander erleben wird. Das merkt man immer besonders deutlich bei den großen Festen wie Weihnachten und Geburtstagen, oder wenn man wieder an Orten ist, mit denen so viele gemeinsame Erinnerungen verbunden sind. Solche Tage sind besonders schwer. Die Trauer kommt dann oft ganz unerwartet um die Ecke geschossen. Und man steht noch nach Jahren immer wieder vor denselben Türen der Trauer – nur auf einem anderen Stockwerk, oder ohne Bild gesprochen: auf einer anderen Verarbeitungsstufe.
idea: Zur Trauer kommt bei Ihnen auch die Frage nach der Schuld. Das stelle ich mir drückend vor.
Kopfermann: Tatsache ist: Ich trage mindestens eine große Mitschuld, weil ich auf die Vorfahrtstraße eingebogen bin und das andere Auto nicht gesehen habe, das mir entgegen kam. Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, warum ich den Unfall nicht habe verhindern können. Wir waren nur 1,8 Kilometer von unserem Ziel entfernt und wären auch ans Ziel gekommen, wenn wir weiter geradeaus gefahren wären und einfach dem Navi gefolgt wären. Das Abbiegen war also völlig unnötig. Das kann einen natürlich wahnsinnig machen, auch wenn der Kopf sagt, dass das überhaupt nichts bringt. Ein Zeuge hat später ausgesagt, dass zu diesem Zeitpunkt die Sonne sehr tief stand – das war sicher auch ein Teil des Problems. Es war ein Moment der Unachtsamkeit, der fatale Folgen hatte.
idea: Hadern Sie noch mit sich selbst oder haben Sie Frieden gewonnen?
Kopfermann: Die Wahrheit liegt in der Mitte zwischen diesen beiden Polen. Kurz nach dem Unfall habe ich eine zwei Jahre dauernde Traumatherapie bei einem Psychologen begonnen, der selbst einen Sohn verloren hat. Das hat mir sehr geholfen. Ich erinnere mich noch wie heute an das Schreiben der Staatsanwaltschaft, in dem mir mitgeteilt wurde, dass das Verfahren gegen mich eingestellt wird. Der Eröffnungssatz des 30-seitigen Schreibens lautete: „Arne Kopfermann hat sich vermutlich der fahrlässigen Tötung seiner Tochter Sara Marie Kopfermann ausreichend verdächtig gemacht. Wir raten jedoch aufgrund von Paragraf 170 Strafprozessordnung dringend von einer weiteren Bestrafung ab, denn die Familie befindet sich in therapeutischer Behandlung und ist mit dem Verlust schon genug bestraft.“ So ein Satz hat die Kraft, einen Menschen zu zerstören.
idea: Dabei ist der Satz ein juristisches Entgegenkommen.
Kopfermann: Natürlich. Verstandesmäßig sehe ich das auch so, aber emotional? Würde ich diesen Satz auf meinem Herzensboden schlummern lassen, und er könnte mich von dort zeit meines Lebens anklagen, wäre das verheerend. Glücklicherweise habe ich mich sofort entschieden, den Satz meinem Therapeuten gegenüber zu äußern und auch engen Freunden gegenüber. Sie sagten mir: „Arne, es ist ein himmelweiter Unterschied zwischen juristischer Schuld und moralischer Schuld. Jeder von uns hätte im Straßenverkehr in eine solche Situation geraten können. Du warst leider zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.“ Das musste ich hören und mir auch selbst immer wieder sagen. Trost habe ich in einem handfesten Symbol gefunden, das mir jemand am Rande eines meiner ersten Konzerte nach dem Unfall geschenkt hat. Das war so ein kleines Holzkreuz, das man sich in die Tasche stecken kann. Eigentlich bin ich gar kein großer Symbol-Typ, aber in den Tagen, als Tränen ein tägliches Thema waren, hat es mir sehr geholfen. Es hat mich daran erinnert: Wenn Christus meine Schuld getragen hat, kann ich dieses Kreuz symbolisch umfassen und meine empfundene Schuld dort abladen. Jesus am Kreuz hat für mich eine so existenzielle Bedeutung bekommen, wie ich das vorher nicht kannte. Ein Teil von mir blockt die Gedanken an die persönliche Schuld zuweilen auch ab, weil man das Unerträgliche nicht ständig anschauen kann. Ich habe unsere Tochter unfassbar geliebt, und wenn ich mit ihr tauschen könnte, hätte ich das getan. Ein anderer Teil von mir wirft mein Schuldempfinden aufs Kreuz, und wieder ein anderer hat sich mit der Realität eingerichtet, dass sich der Zeiger nicht zurückdrehen lässt.
idea: Wie hat sich Ihr Glaube dadurch verändert?
Kopfermann: Mein Glaube hat sich nicht erst seit dem Unfall verändert. Vieles hat schon sehr viel früher angefangen. Ich habe bereits 2006 das Album „Geheimnisvoller Gott“ veröffentlicht, in dem ich mich in einigen Songs christlicher Mystik – also der Vorstellung, dass Gott gleichzeitig verborgen und offenbart ist – angenähert habe. Vieles an Gott ist nicht verständlich. Als ich das Album schrieb, war gerade mein Onkel bei einem Verkehrsunfall verunglückt. Ein Motorradfahrer ist in die Fahrertür hineingerast, und er war sofort tot. Schon damals habe ich einige schwarz-weiße Glaubensüberzeugungen über Bord geworfen. Ich erkannte, dass ein Reiz-Reaktions-Schema („Wenn ich Gott um Schutz bitte, kann mir auch nichts passieren“) nicht funktioniert. Damals war das Buch „Das Gebet des Jabez“ von Bruce Wilkinson in aller Munde: „Herr, segne mich und erweitere mein Gebiet! Steh mir bei und halte Unglück und Schmerz von mir fern!“ (1. Chronik 4,10). Das Versprechen lautete: Wenn man dies bete, werde man ein Leben in Fülle haben. Vieles war mir an der Auslegung dieses Gebets nicht geheuer. Heute würde ich es noch viel deutlicher sagen: Das ist ein Wohlfühl-Evangelium, das viele Leute gerne hätten. Gott wird dabei zu einem Erfüllungsgehilfen gemacht. Nach dem Unfall war mir endgültig klar, dass ich mich von so einer Art zu glauben gänzlich distanzieren muss. Als Musiker, der die deutsche Lobpreismusik mitgeprägt hat, bin ich ja immer auch eine Galionsfigur und muss zu dem stehen, was ich von Gott erkannt habe. Ich will die Öffentlichkeit, die ich habe, nutzen, um auf Missstände hinzuweisen.
idea: Welche Missstände sehen Sie?
Kopfermann: Da ist eine theologische Kultur, eine Überzeugung: Wenn du das und das tust, wirst du Segen erleben. Das ist eine unzulässige Vereinfachung. Sie bringt fatale Erklärungsmuster mit sich, wenn im Leben etwas schiefgeht. Ein Beispiel ist die Heilungstheologie mancher charismatischer Gruppen. Sie sagen: Gott möchte immer heilen. Wenn doch keine Heilung geschieht, gibt es dafür drei Gründe: 1. Du hast nicht genug geglaubt – oder du hast Sünde in deinem Leben, 2. Deine Gemeinde hat nicht genug geglaubt – wenn du in einer Gemeinde lebst, die nie für Heilung betet, musst du dich nicht wundern, dass du nicht gesund wirst, 3. Das Land, in dem du lebst, glaubt nicht genug.
idea: Die Last liegt damit immer beim Leidenden.
Kopfermann: Genau. Dem Leidenden wird eine doppelte Last aufgelegt: Er muss nicht nur lernen, sein schweres Los zu tragen, sondern er muss sich auch noch Kopf und Herz zermartern, warum die Zusagen, die Gott gibt, bei ihm nicht greifen. Häufig führt das in eine Isolation: Du bist selbst dran schuld, dass dir Schlimmes widerfährt. Das steht aber im Widerspruch zu allem, was ich in der Bibel lese. Wir müssen verstehen, dass wir in einer gefallenen Welt leben und dass das Leid auch vor Christen nicht haltmacht. Allerdings verstehe ich durchaus die Logik, die hinter einem solchen Heilungsverständnis steckt. Wenn man Psalm 91 liest, möchte man doch als jemand, der in unserer Situation steckt, wahnsinnig werden: „Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich deinem Hause nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen“.
idea: Dagegen steht Psalm 88: „Meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Totenreich … Dein Grimm geht über mich, deine Schrecken vernichten mich. Sie umgeben mich täglich wie Fluten und umringen mich allzumal. Meine Freunde und Nächsten hast du mir entfremdet, und mein Vertrauter ist die Finsternis.“
Kopfermann: Dieser Psalm hat 64 Freunde – denn 65 der 150 Psalmen sind Klagepsalmen. In der modernen Worship-Kultur kommen sie aber praktisch nicht vor. Dafür werden dann Gründe angeführt: dass wir das Alte Testament vom Neuen Testament her lesen müssen, oder dass das, was damals noch bedrängend war, durch das Kommen Jesu überwunden ist. So werden die realen Bezüge zu Leid und Klage in der Bibel leider oft mundtot gemacht.
idea: Aber Jesus selbst klagte doch: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46).
Kopfermann: Das zeigt, wie selektiv manche die Bibel lesen. So kann Theologie zu einem unbarmherzigen Feind des Menschen werden, der die Seele knechtet. Wir dürfen Gott nicht so klein machen, dass er in unsere Schubladen passt. Ich halte es da lieber mit der Theologin Evelyn Underhill: „Wenn Gott klein genug wäre, um ihn verstehen zu können, wäre er nicht groß genug, um ihn anzubeten.“
idea: Eine Konsequenz, die Sie gezogen haben: Sie haben die charismatische Gemeinde verlassen, in der sie viele Jahre Mitglied waren und haben sich einer Freien evangelischen Gemeinde angeschlossen. Warum der Wechsel?
Kopfermann: Das hat mehrere Gründe. Ich habe eine Gemeinde gesucht, die in ihrer Sprache für Außenstehende verständlich ist und in die ich meine nichtchristlichen Freunde mitbringen kann. Es gibt leider in vielen Gemeinden ein christliches Insidertum, in dem die Sprache Kanaans dominiert. Dadurch werden die Gemeindestrukturen inzestuös. Man hat leicht nur noch christliche Freunde, die Abendtermine finden alle in der Gemeinde statt. Ein weiterer Grund sind Fremdschäm-Momente, eine Spiritualität, die die Leute, die mal zu Besuch kommen, vor den Kopf stößt. Wir haben zum Beispiel mal gute Freunde in einen charismatischen Gottesdienst mitgenommen. Es waren gefühlt noch keine fünf Minuten vergangen, da trat der Prediger auf die Bühne und verkündigte: „Ich habe Eindrücke von Gott bekommen für unterschiedliche Menschen hier. Komm nach vorne, und ich werde dir im Namen Jesu Heilung zusprechen.“
idea: Warum ist das peinlich?
Kopfermann: Weil nicht nachvollziehbar und überprüfbar ist, was passiert. Es wird gar kein Zweifel daran gelassen, dass in dem Moment ein Mensch von seiner Krankheit geheilt wird. Es ist wie ein Automatismus: Gott hat mir das gezeigt, also ist das so! Wenn man aber lange genug in dieser Welt gelebt hat, weiß man, dass das nicht stimmt. Es gibt Leute, die werden geheilt, aber eben auch andere, für die ist gebetet worden, und sie wurden nicht geheilt. Das Vorgaukeln, dass Gottes Wunder für uns frei verfügbar wären, empfinde ich als peinlich und letztlich verlogen. Wir sollten nicht so tun, als hätten wir den Gott-Code geknackt. Die Enttäuschungen sind vorprogrammiert, und wenn nichts passiert, wird der Schwarze Peter an den Kranken weitergegeben. Deshalb breche ich zu einem Glauben auf, der tastender, vorsichtiger, weniger vollmundig ist. In die große Halleluja-Runde in Doppel-Dur nach dem Motto „Wir nehmen siegreich das Land unseres Lebens ein und nichts darf mehr schieflaufen“ konnte ich noch nie einstimmen und tue das heute weniger denn je.
idea: Dürfen sich Christen nicht mehr an den Zusagen Gottes freuen?
Kopfermann: Natürlich dürfen und sollen sie das, und ich tue das auch. Es kann ein großer Trost sein, den schweren Dingen im Leben die Verheißungen und Möglichkeiten Gottes entgegenzustellen.
idea: Aber?
Kopfermann: Viele Christen wünschen sich einen Lobpreis, der ausschließlich positiv ist. Man kann dem Leben aber auf Dauer nicht so begegnen. Denn dann muss man die traurigen und zerbrechlichen Seiten völlig ausblenden und sieht das Leben nicht mehr so, wie es wirklich ist.
idea: Im Moment können Sie Corona-bedingt nicht öffentlich singen. Leiden Sie unter Entzugserscheinungen?
Kopfermann: Ja, sehr. Ich habe sonst 50 bis 80 Auftritte im Jahr, und die Bühne, das Konzertegeben, aber auch das gemeinsame Singen und Anbeten fehlen mir massiv.
idea: Sie schreiben heute andere Texte als vor dem Unfalltod.
Kopfermann: Ja. Für mich ist ein großer Kritikpunkt an der vorherrschenden Lobpreis-Kultur, dass sie oft von der eigenen Nachfolge in denselben Superlativen wie von Gott singt. Wenn wir von Gott als allgegenwärtig, allmächtig und allwissend singen, hält er diesen Superlativen stand – davon bin ich überzeugt. Aber unsere eigene Nachfolge muss an diesen Ansprüchen scheitern. Wenn ich singe: „Ich gebe dir alles und gehe mit dir, Jesus, bis an die Enden der Erde“, bete ich nicht wirklich in Wahrheit an. Ich kann Jesus nicht in Perfektion nachfolgen, sondern nur in bleibender Erlösungsbedürftigkeit.
idea: Was wäre angemessener?
Kopfermann: Zum Beispiel Psalm 139: Herr, du kennst meine Gedanken und Wege. Wenn ich untreu bin, bist du doch treu. Ich möchte Gott auf eine ehrlichere Weise betrachten, die den Brüchen und Kämpfen der eigenen Biografie standhält. Denn wir können uns kein ausgiebiges „Gloria“ leisten, ohne auch ein „Kyrie“ zu singen.
idea: Vielen Dank für das Gespräch!