(“Adventisten heute”-Aktuell, 16.5.2014) Was bedeutet die Lehre von der Rechtfertigung heute? Dieser Frage geht ein neuer Grundlagentext der EKD nach, der am 14. Mai in Berlin vorgestellt wurde: “Rechtfertigung und Freiheit”. Anlass ist das 500. Reformationsjubiläum im Jahr 2017. Karsten Huhn stellt die wichtigsten Aussagen des Dokuments vor.
Wie entgehe ich armer, elender Mensch der Höllenstrafe? Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Mit diesen Fragen plagte sich der Reformator Martin Luther (1483-1546) als Mönch im Augustinerkloster in Erfurt und später in Wittenberg. Die Antwort, die er darauf fand, war die Rechtfertigungslehre, also die Lehre, wie der sündige Mensch vor Gott bestehen kann. Entscheidend waren für ihn dabei Verse aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom: “Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm [dem Evangelium] offenbart” (1,17); “So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben” (3,28). Für Luther wurde diese Einsicht zum Zentrum seiner Theologie: “Denn der eigentliche Gegenstand der Theologie ist der der Sünde schuldige Mensch und der rechtfertigende Gott und Heiland dieses Sünders. Was außer diesem Gegenstand in der Theologie gesucht und verhandelt wird, ist Irrtum und Gift.” Ähnlich sah es der Schweizer Reformator Johannes Calvin (1509-1564). Für ihn stellte die Frage, wie der Mensch von Gott gerechtfertigt wird, “den hauptsächlichen Pfeiler dar, … auf dem unsere Gottesverehrung ruht – Grund genug, hier die größte Aufmerksamkeit und Sorgfalt walten zu lassen!”
Die Versöhnung geht von Gott aus
Hat die Rechtfertigungslehre noch Bestand? Oder stellen sich heute nicht ganz andere Fragen? Die Theologische Kammer der EKD unter Leitung des evangelischen Theologen Prof. Christoph Markschies (Berlin) hat aus Anlass des bevorstehenden Reformationsjubiläums einen neuen Versuch unternommen, die Rechtfertigungslehre verständlich zu machen. Das 110 Seiten starke Grundsatzpapier “Rechtfertigung und Freiheit” bezeichnet die Rechtfertigungslehre als “Herzstück evangelischer Theologie und Frömmigkeit”. Es könne “als Antwort auf Fragen heutiger Menschen dienen”. Im Zentrum der Reformation stehe “die Lehre, dass das versöhnte Verhältnis zwischen Gott und Mensch von Gott ausgeht und nicht das Ergebnis einer Selbstbesinnung oder sonstigen kulturellen, politischen oder religiösen Anstrengung ist”. Die Reformatoren hätten die Rechtfertigungslehre nicht erfunden, sondern “im Rückgriff auf die allen Kirchen gemeinsamen Anfänge des Christentums neu formuliert und anders zugespitzt”.
Ist Gott ein Gerichtsherr?
Allerdings sei die Vorstellung “von Gott als einem Gerichtsherrn, der wie ein absolutistischer Monarch unumschränkt herrscht, tief problematisch geworden”. Es entspreche weder dem, was Jesus von Nazareth lehrte, noch dem, was das Alte Testament über den Gott Israels verkündete. Auch Luther selbst habe im Blick auf sein Leben selbstkritisch formuliert, “dass sein Ringen um das Heil letzten Endes von purem Egoismus geprägt war. Er erkannte nämlich, dass es ihm insbesondere beim Beichten nicht um Gott, sondern um ihn selbst und seine persönliche Rettung ging.” Luther sei bald klar geworden, dass es ihm niemals gelingen werde, ein perfektes Leben ohne jede Übertretung zu führen. Dies habe ihn verzweifeln lassen – bis er erkannte, dass Gott “Gnade vor Recht” ergehen lasse und den Menschen “allein aus Gnade, ohne des Gesetzes Werke” gerecht spreche: “Für Martin Luther war die entscheidende Erkenntnis, dass durch Jesus Christus diese Gnade allen, die an ihn glauben, zugänglich wird … Das Evangelium besteht darin, dass der Mensch im Vertrauen auf Jesus Christus bereits gerechtfertigt ist. Luther beschreibt diesen Sachverhalt immer wieder als tröstliche, von Herzen fröhlich machende Erfahrung der Befreiung aus der Angst vor Fegefeuer und Hölle.”
Heute fürchten die Menschen eher die Hölle auf Erden
Im 21. Jahrhundert fürchteten Menschen weniger die Hölle nach dem Tod, sondern eher die Hölle auf Erden, so die EKD. Um die Rechtfertigungslehre heute zu verstehen, empfiehlt sie deshalb folgende Begriffe:
1. Liebe: Die Liebe sei scheinbar grundlos, aber doch zuverlässig und vertrauensvoll. Menschen liebten einander trotz Schwächen und Fehlern: “Wenn schon die Liebe der Mutter oder des Vaters auch Tiefpunkte der Beziehung oder des Fehlverhaltens überdauert, so bleibt Gottes Liebe zu den Menschen erst recht bestehen.” Dies führe zu Lebensfreude, Glück und Dankbarkeit gegenüber Gott.
2. Anerkennung und Würdigung: Respektiert zu werden, sei ein grundlegendes Bedürfnis jedes Menschen. Allerdings sei diese zwischenmenschliche Erfahrung selten. Umso bewegender sei es, wenn ein Mensch erkenne, dass er von Gott anerkannt ist. Gott würdige den Menschen unverdient, ohne Vorbedingung.
3. Vergebung: “Gott vergibt auch Schuld, die Menschen nicht vergeben können oder wollen … Vergebung bedeutet, dass die Schuld, die zwischen Menschen und zwischen Mensch und Gott steht, gleichsam fortgenommen und beiseitegelegt wird, aber nicht vergessen ist.”
4. Freiheit: “Rechtfertigung bedeutet eine Gabe umfassender Freiheit, die einen Menschen von der Bezogenheit auf sich selbst erlöst: Ich bin nicht mehr auf mich selbst bezogen, sondern frei für die Nächsten und die Gemeinschaft.” Dieses Verständnis von Freiheit widerspreche dem “landläufigen Missverständnis von Freiheit als Ende jeglicher Beziehungen”.
Zusammenfassend heißt es: “Der Mensch wird nicht bemessen nach dem, was er nach außen darstellt oder auch wie er persönlich dasteht, sondern er wird von Gott geliebt, anerkannt, gewürdigt, ganz unabhängig von seinem Bildungsstand, Einkommen, sozialen Hintergrund und gesellschaftlichen Ansehen. Diese Anerkennung und Würdigung macht ihn wahrhaft frei. Schuld belastet ihn nicht mehr, ist aber auch nicht einfach vergessen, sondern ist als bekannte Schuld vergeben und dadurch überwunden.”
Der Atheismus fordert heraus
Die Reformation sei jedoch nicht abgeschlossen. Um sie fortzuführen, nennt die EKD folgende Aufgaben:
1. Konfessionelle Spaltungen überwinden. Die Reformation habe zur Pluralisierung und konfessionellen Vielfalt der Kirche geführt. Dies dürfe weder einseitig als “Kirchenspaltung” wahrgenommen werden noch als “ausschließlich begrüßenswerte Individualisierung”. Zwar habe man mit der römisch-katholischen Kirche 1999 ein gemeinsames Papier zur Rechtfertigungslehre formuliert; allerdings blieben beim Verständnis des Priesteramts und der Sakramente kirchentrennende Unterschiede bestehen.
2. Mit Entchristlichung und Atheismus umgehen lernen: “Viele Menschen leben ohne einen Gottesbezug und scheinen nichts zu vermissen.” Im thüringischen Eisleben, der Geburtsstadt Luthers, seien heute nur noch sieben Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Kirche. Gefragt seien daher Neuerungen, etwa verständlichere Gottesdienste, und eine Kirche, die auf Menschen zugeht.
3. Geschlechtergerechtigkeit ist als evangeliumsgemäßer Wert zu verstehen, deswegen sind Geschlechterhierarchien abzubauen. So dürften Frauen deshalb als Pfarrerinnen amtieren. Entscheidend sei Luthers Erkenntnis: “Was aus der Taufe gekrochen ist, kann sich rühmen, dass es Priester, Bischof, Papst ist.” Maßgeblich sei zudem Paulus’ Aussage aus dem Galater-Brief 3,28: “Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.”
4. Die evangelische Kirche muss es lernen, den Dialog mit anderen Religionen zu führen. Das Judentum sei die Wurzel, die das christliche Verhältnis zu Gott trägt. Es komme darauf an, die judenkritischen Äußerungen (besonders Martin Luthers) “selbstkritisch zu korrigieren” und so das Verhältnis zur “Geschwisterreligion” zu erneuern. Kritisch betrachtet werden müssten auch die Äußerungen der Reformatoren über den Islam, etwa die Angst vor der “Türkengefahr”. Aufgabe der kommenden Jahre sei es vor allem, in den Dialog mit dem Islam zu treten. Zugleich räumt das EKD-Papier ein: “Wie das klassische reformatorische Prinzip solus Christus, âallein Christusâ, so zu Geltung gebracht werden kann, dass friedliches Miteinander möglich wird, ist freilich umstritten.”
Liegt das Heil allein in Jesus Christus?
“Solus Christus” (allein Jesus Christus) war für die Reformatoren ein Leitwort. Für sie lag das Heil allein in Jesus Christus. Wie hält die EKD es mit dieser Aussage? Sie wirft in ihrem Papier folgende Fragen auf: “Ist diese Exklusivität Jesu Christi nicht anmaßend? Wie kann man so auftreten und andere religiöse Gründe für ein heilvolles Leben bestreiten? Heute, in der Situation des religiösen Pluralismus, scheint eine derartige Position arrogant und ausgrenzend zu sein.” Dazu erhebt die EKD folgende Bedenken: “Angesichts der Verweltlichung unserer Gesellschaft scheint eine Fokussierung der Kirche auf Jesus Christus wenig hilfreich. Sollte es nicht ausreichen, wenn Menschen überhaupt noch an irgendetwas glauben, an eine höhere Macht oder irgendwie an âGottâ? Zerstört die kirchliche Predigt von Jesus Christus nicht den vorhandenen Glauben, indem sie eine theologische Konzentration fordert?” Das Papier gibt folgende Antworten: “Ein diffuser Glaube an âirgendeine höhere Machtâ hilft auch nur diffus. Die Kirche braucht sich nicht zu scheuen, ihren spezifischen Glauben zum Ausdruck zu bringen.” Die Kirche dürfe sich nicht mit diesem oder jenem beschäftigen, “sondern muss die Geschichte vom Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi erzählen. Dafür ist die Kirche da. Jeder Mensch soll die Christusgeschichte hören können.” Die Herausforderung für die Kirche laute daher, “dass in ihr tatsächlich von Jesus als Christus geredet wird”. Tue sie dies nicht, “wird die Kirche keinen Bestand haben”. (idea)