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Wie gläubig sind die USA?

Von: ADVENT VERLAG Datum Beitrag: 12.02.2015 Kommentare: Keine Kommentare Tags:

(“Adventisten heute”-Aktuell, 13.2.2015) Traditionell an jedem ersten Donnerstag im Februar findet in Washington D.C. das Nationale Gebetsfrühstück statt, an dem auch der jeweilige US-Präsident teilnimmt. Ein großes Ereignis – aber wie religiös sind die Vereinigten Staaten von Amerika tatsächlich noch? Der Kirchenhistoriker Prof. Gerhard Besier (Dresden), der seit Herbst an der US-Universität Stanford unterrichtet, hat die Lage für idea analysiert.

Über Jahrzehnte hinweg erschienen die USA jenen in Europa als ein leuchtendes Vorbild, die sich eine lebhaftere Christenheit auf ihrem Kontinent wünschten. Dieser Mythos von der hohen Religiosität in den USA lebt noch, aber er hat mit der Wirklichkeit nur noch wenig zu tun. Das Meinungsforschungsinstitut Pew Forum (Washington) stellte schon 2012 fest, dass der jahrhundertelang dominierende Protestantismus in den USA eine immer geringere Rolle spiele. Seither bröckelt das Bild immer rascher. Weniger als die Hälfte der rund 316 Millionen US-Amerikaner gehört noch irgendeiner evangelischen Kirche an, jeder fünfte Bürger fühlt sich gar keiner Religion mehr zugehörig. Unter der jungen Generation der 18- bis 22-Jährigen glaubt gar nur noch ein knappes Drittel an Gott; Tendenz weiter zurückgehend. Die neuen “Agnostiker” – also diejenigen, die sich keiner religiösen Richtung zugehörig fühlen – sind jung, liberal, gebildet, weiß und verdienen überdurchschnittlich gut.

Hohe Verluste auch bei den Evangelikalen

Herbe Verluste sind nicht nur bei den traditionellen und meist liberal orientierten Kirchen, sondern auch aufseiten der eher konservativen Evangelikalen wie den Südlichen Baptisten zu vermelden. Sehr viel stabiler ist die Kirchenzugehörigkeit aufseiten der im Durchschnitt weniger gut gebildeten schwarzen Protestanten. Auf dem bunten Markt der Religionen scheint sich auch die römisch-katholische Kirche – trotz Verlusten – dank vieler Einwanderer besser behaupten zu können als protestantische Kirchen – ähnlich wie in Europa.

Wenn Protestanten nichts von Martin Luther wissen

Die Ursachen für den Auszug der Eliten aus der insgesamt immer noch religiös geprägten Gesellschaft der USA sind vielfältig, das Festhalten der anderen an ihren Kirchen auch. Vielen ist nicht bewusst, dass die USA ein gesellschaftlich stark zerklüftetes Land sind. Es gibt keinen annähernd gleichen Bildungsstandard. Paradox ist, dass Umfragen zufolge die Ungläubigen meist mehr über die Geschichte und zentrale Aussagen bestimmter Religionen wissen als viele Mitglieder dieser Religionen selbst. So wusste nicht einmal jeder zweite Protestant etwas von der Reformation und dass sie auf Martin Luther zurückgeht. Die gesellschaftlichen Unterschiede führen auch zu unterschiedlicher Kirchennähe: Wer genug verdient, muss sich nicht wegen Kinderbetreuung, Eheberatung, Suppenküchen, Kleidervergabe oder auch Freizeitgestaltung an christliche Organisationen wenden. Da der amerikanische Staat in allen diesen Bereichen beinahe völlig abwesend ist, bleiben für die Benachteiligten der US-Gesellschaft allein die Kirchen.

Manche charismatischen Prediger stürzen rasch ab

Es gehört nicht viel dazu, in den USA eine Kirche zu gründen, die vom Finanzamt anerkannt wird. Da es aber weder ein reguliertes Kirchenbeitragssystem noch gar staatliche Zuschüsse gibt, ist es um die “Nachhaltigkeit” dieser Kirchbildungen nicht gut bestellt. Sie schießen ins Kraut, nehmen Millionen ein, verlieren jäh an Zuspruch und müssen rasch wieder schließen. Da Religiosität in den USA mit ethischem Verhalten fast gleichgesetzt wird, gehört zu einem Scheitern nicht viel. Manche charismatischen Prediger, die Tausende und Abertausende zu fesseln vermochten und Millionen Dollar an Spenden einheimsten, stürzten rasch ab, als Verfehlungen in ihrer persönlichen Lebensführung oder im Umgang mit dem Vermögen der jungen Kirche bekanntwurden. Jüngstes Beispiel ist Pastor Mark Driscoll, der die vormals boomende evangelikale Megakirche in Seattle aufgebaut hat. Doch der dominante Führungsstil des charismatischen Predigers, seine verletzenden Äußerungen wie sein überbordender Egozentrismus – finanziert auch mit Kirchenmitteln – führte zu einem jähen Absturz. Trotz öffentlicher Bußrituale ziehen solche Erfahrungen eine breite Enttäuschung nach sich. Viele verlassen nach solchen Skandalen ihre Kirche, ja ganze Glaubensrichtungen suchen nach einer anderen religiösen Heimat. Dort beginnt der Kreislauf von vielleicht allzu hohen Hoffnungen und Erwartungen bis hin zu heftiger Ernüchterung erneut.

Der Einfluss auf die Politik schwindet

Bei manchen charismatischen Aktivisten scheint die strikt konservative Gesinnung stabiler zu sein als die Orientierung an ein gemeinsames christliches Bekenntnis. So stellten sich einige der “Wiedergeborenen Christen” in den Dienst ganz unterschiedlich religiös geprägter Politiker, wenn deren Positionen ihnen nur konservativ genug erschienen. Der prominente Begründer der Koalition für Glaube und Freiheit, Ralph Reed, unterstützte nicht nur den bekennenden Presbyterianer Ronald Reagan und den religiös eher indifferenten Newt Gingrich. Reed, Mitglied der “Evangelikalen Gemeinde Gottes”, setzte sich 2012 auch vehement für den Mormonen Mitt Romney ein und kämpfte gegen den Demokraten Barack Obama, obwohl dieser ihm als Mitglied der “Vereinigten Kirche Christi” konfessionell zweifellos näherstehen musste. Schon seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts mischen sich religiöse Organisationen ganz unverhohlen in amerikanische Wahlkämpfe ein, obwohl es in den USA eine strikte Trennung von Staat und Kirche gibt. Liberale Kritiker sehen darin eine Instrumentalisierung der einen oder anderen religiösen Denomination für politische Interessen. Nicht zuletzt wegen der massiven Kritik auch im konservativen republikanischen Lager scheint der politische Einfluss evangelikaler Kreise auf die politischen Geschicke des Landes wieder deutlich abzunehmen.

Was US-Christen von der Kirche erwarten

Die meisten weniger gut gebildeten Amerikaner erwarten von ihrer Kirche etwas ganz anderes als die Christen in Europa: In den USA suchen sie einen Ort, der sie emotional aufwühlt, ihre Alltagssorgen vergessen lässt und sie in eine Welt “entführt”, die mit ihrer gelebten Wirklichkeit nur noch wenig zu tun hat. Das ist für sie Gottesnähe und Gotteserlebnis. Die Vorteile der so schwer und akademisch daherkommenden europäischen Großkirchen sind von hier aus offensichtlich. Die traditionellen Kirchen Europas wollen gerade nicht auf einen intellektuell durchdachten Glauben verzichten und nehmen dafür in Kauf, dass manche Predigten zu wissenschaftlichen Vorträgen verunglücken. In den meisten Ländern Europas können sich die Kirchen das leisten, in den USA nicht. Dort gibt es zwar auch eine akademische Theologie, aber sie fristet aus kirchlicher Perspektive eine absolut randständige Existenz und spricht kaum mehr Intellektuelle an als in Europa.

Wo Erfolg sich in Zahlen bemisst

Da sich in den Vereinigten Staaten Erfolg stets an großen Zahlen bemisst, mussten in den vergangenen 65 Jahren die traditionellen protestantischen Kirchen, wie etwa die Reformierten, Lutheraner oder Methodisten, am meisten Federn lassen. Längere finanzielle Durststrecken können sie nicht durchstehen, sondern müssen augenblicklich scharfe Einschnitte in ihrem Budget vornehmen. Das ist zum Beispiel in Dänemark, dem “atheistischsten” Land Europas, ganz anders. Dort gehen die Leute zwar kaum mehr zur Kirche, finanzieren aber bereitwillig die staatliche Volkskirche. In den USA wäre ein solches Arrangement undenkbar. Finanziert wird nur, was man auch nutzt.

Der große Unterschied zwischen Stadt und Land

Verwirrend sind in den USA auch die regionalen Unterschiede. Auf dem Lande spielt Religion nach wie vor eine große Rolle. Viele Menschen verbringen in den Kirchengemeinden einen großen Teil ihrer Freizeit, begegnen dort anderen Menschen und pflegen ihre sozialen Kontakte. Wegen des hohen Ansehens der kirchlichen Gemeinschaften ist dies auch der Ort, wo sich junge Menschen treffen können, ohne ihrem “Ruf” zu schaden. Es gibt kaum andere seriöse Freizeitangebote, und die Kirche ist auch der Platz für Orientierung und Einübung in allgemein akzeptiertes Sozialverhalten. Wer den ländlichen Raum verlässt, um in den großen Städten zu arbeiten oder zu studieren, muss den Eindruck gewinnen, als tauche er in eine völlig andere Welt ein. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Welten sind kaum mit den in Europa bekannten zu vergleichen. Es ist so, als befände man sich plötzlich auf einem anderen Stern.

Ohne Geben und Nehmen geht es nicht

Auch der kirchliche Lobbyismus ist in den USA verbreiteter und dominanter als in Europa. In Washington D. C. oder auch an den berühmten, nichtkonfessionellen Universitäten der USA wie Harvard oder Yale bemühen sich die religiösen Denominationen um Einfluss. Charmante Pastoren laden zu Gottesdiensten, Gesprächen und Mittagessen ein. Theologische Sachfragen spielen bei solchen Treffen keine Rolle, sondern die Herstellung atmosphärischer Wärme, der Austausch von Meinungen und Fragen nach einer etwaigen Spendenbereitschaft. Ähnlich wie in anderen Lebensbereichen ist auch das kirchliche Leben in den USA klar funktionsbestimmt. Alles muss ein Ziel haben, das möglichst rasch zu erreichen ist. Insofern könnte man sagen, dass bestimmte kulturelle Verhaltensweisen längst auch die Kirchen überwölbt haben: In dieser Gesellschaft geht es ohne wechselseitiges Geben und Nehmen nicht.

Ein radikaler Unterschied zu Europa

Es gibt freilich einen Unterschied, der sich radikaler kaum denken lässt: der Respekt vor dem, was dem anderen heilig ist. Während in Europa akademische Theologen oft über die vermeintliche Unbedarftheit konservativer oder evangelikaler Christen die Nase rümpfen, jede kleine Glaubensgemeinschaft auf die innere Logik ihrer Glaubensvorstellungen hin abklopfen und sie dann gegebenenfalls als “Sekte” abtun, ist in den USA ein solches “Prüfverfahren” gänzlich unbekannt. Nicht der akademische Tiefgang einer Religion, sondern der gelebte Glaube ist entscheidend.

“Charlie Hebdo” wäre in den USA undenkbar

Der Glaube an den Glauben geht so weit, dass sein Gegenstand beinahe völlig in den Hintergrund treten kann. Das ist auch der Grund, warum es in den Vereinigten Staaten keine Satire-Kultur gibt, die in aufklärerischem Interesse gezielt die religiösen Gefühle anderer verletzt. Auch die Agnostiker halten sich an diese Spielregeln. Sie glauben zwar an nichts, respektieren aber den Glauben der anderen. Das geht so weit, dass sie in gemischten Zirkeln Gespräche über die Religion vermeiden – nur, um andere nicht zu provozieren. Sie kämen niemals auf die Idee wie in Paris die Satire-Zeitschrift “Charlie Hebdo”, Mohammed abzubilden, das Kreuz lächerlich zu machen oder jüdische Glaubensvorstellungen zu karikieren. Nicht weil sie sie für heilig hielten, sondern weil sie die Gefühle anderer nicht verletzen wollen. (idea)

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