(“Adventisten heute”-Aktuell, 4.9.2015) Die digitale Bildung an deutschen Schulen zu verbessern, ist ein politisches Ziel der Bundesregierung und der Länder. Auch die Kirchen haben offenbar wenig gegen digitale Bildung einzuwenden. Doch unumstritten ist dieser Trend keineswegs.
Von Prof. Werner Thiede
Die digitale Bildung an deutschen Schulen zu verbessern, ist ein politisches Ziel der Bundesregierung und der Länder. Offenbar geniert man sich nachhaltig angesichts des schlechten Abschneidens von Schülern in Deutschland bei einer internationalen Studie zu Computer-Kompetenzen im vorigen Jahr. Solch ein Image stehe im Widerspruch zum Anspruch einer fortschrittlichen Bildungsnation. Auch die Kirchen haben offenbar wenig gegen digitale Bildung einzuwenden. So bekundete die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im November 2014 in Dresden: “Als evangelische Kirche gestalten wir den digitalen Wandel mit und vertrauen auch in der digitalen Gesellschaft auf Gottes Begleitung.” Doch unumstritten ist dieser Trend keineswegs.
Digitales Fieber
Namentlich seit dem 2012 erschienenen internationalen Bestseller “Digitale Demenz” des Ulmer Hirnforschers Prof. Manfred Spitzer hat sich herumgesprochen, dass es nicht unproblematisch ist, Minderjährige an digitale Geräte heranzuführen. Spitzer: “Die Obama-Administration verfolgt das Ziel, bis 2017 jedem Schüler Studenten ein E-Lehrbuch zur Verfügung zu stellen. Auch europäische Regierungen sind von einer Art digitalem Fieber ergriffen; sie wollen so schnell wie möglich die digitale Revolution in Klassenzimmern und Universitäten ausrufen.” Doch die Wirkung entsprechender Geräte und Methoden auf das Lernen sowie auf das leibliche und seelische Befinden von Kindern und Jugendlichen wird viel zu wenig kritisch hinterfragt. Vielmehr erweist sich die “Digitalisierung der Bildung” als Teil einer Gesamtstrategie für den Umbau zur Industrie 4.0, die sich riesige Gewinne ausrechnet.
Ein Super-GAU bei der Gehirnentwicklung
Schon warnen weitere Wissenschaftler von der digitalen Revolution des Lernens. So heißt es in dem neuen Buch “Die Lüge der digitalen Bildung” von Prof. Gerald Lembke, Studiengangleiter für Digitale Medien in Mannheim, und Diplomvolkswirt Ingo Leipner: Wenn es nach Wirtschaft und Politik gehe, würden Kindergärten und Schulen massiv mit WLAN, Tablets und andere digitalen Wunderwaffen aufrüsten, während an Lehrern und Erziehern gespart werde. Die Bildschirme fräßen zusehends die Lebenszeit der Kinder – dabei sei es aus entwicklungspsychologischer Sicht fatal, vor dem zwölften Lebensjahr auf digitale Medien zu setzen. Die Autoren fragen: “Wie sollen Kinder und Jugendliche ihre kognitiven Fähigkeiten entwickeln, wenn digitale Medien sie ständig aus der Wirklichkeit herausreißen? Ihr Gehirn entwickelt sich besser, wenn kein Tablet oder Smartphone reale Welterfahrung verhindert.” Lembke und Leipner zitieren die Hirnforscherin Gertraud Teuchert-Noodt: “Kinder werden quasi gezwungen, sich in Tablets und Co. zu vernarren. Das digitale Feuerwerk schneller Videos und bunter Animationen löst ein Reizbombardement aus, das auf den Hippocampus niedergeht. Sein Belohnungssystem überdreht, es werden unaufhaltsam pathologisch veränderte Frequenzen abgefeuert, die das Stammhirn massiv überfordern. Bestimmte Module reifen vermutlich zu schnell und unzulänglich. Das alles geschieht in einem Alter, in dem das Stirnhirn nicht im Ansatz in der Lage ist, die notwendige Kontrolle über kognitive Konflikte auszuüben … Ein Super-GAU bei der Gehirnentwicklung.”
Totale Computerisierung der Schule
Aus guten Gründen warnt nicht zuletzt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus (Ergolding bei Landshut), von einer “totalen Computerisierung des Klassenzimmers”: Sie fördere Flüchtigkeit und Konzentrationsmangel und verringere das Durchhaltevermögen. Der schöne Umstand, dass E-Books den Schulranzen leichter machen, wiegt die Nachteile der digitalen Revolution nicht auf.
Strahlengewitter im Klassenzimmer
Hinzu kommt die gern tabuisierte Problematik gepulster elektromagnetischer Hochfrequenz-Strahlung bei Tablets und Smartphones, die über keinen Kabelzugang verfügen. WLAN gilt als schick; doch die potentiellen gesundheitlichen Kurz- und Langzeitschädigungen werden oft übertüncht. Peter Hensinger von der Verbraucherschutz-Organisation Diagnose-Funk (Stuttgart) weiß: “30 surfende Schüler erzeugen im Klassenzimmer ein regelrechtes Strahlengewitter!” Da Kinder und Jugendliche oft stundenlang digitale Endgeräte nutzen und sich damit permanent einem Schädigungspotenzial aussetzen, sei der Einsatz von funkgestütztem Lernmaterial und WLAN-Strahlung an Schulen besonders im Wachstumsalter riskant. Eine Reihe industrieunabhängiger Mobilfunk-Studien belegen gesundheitliche Beeinträchtigungen schon weit unterhalb der geltenden Grenzwerte. So nennt eine russische Verlautbarung bei Kindern Störungen des Herzens und Störungen des Immunsystems sowie – für die Schule besonders bedeutsam – Kopfschmerzen, Tagesmüdigkeit, Reizbarkeit und Nervosität, Lern- und Verhaltensstörungen. Sogar der Chef des belgischen Mobilfunkbetreibers Belgacom hatte noch vor wenigen Jahren Schülern geraten, kein WLAN zu nutzen. In diesem Sinn gab es früher auch WLAN-kritische Empfehlungen der deutschen Bundesregierung, des bayerischen Landtags und des Philologenverbands Baden-Württemberg. Das alles scheint aber inzwischen vergessen; immer mehr Schulen werden systematisch mit WLAN ausgestattet.
Drahtlose Technik unterbricht Denkvorgänge
Inzwischen warnt eine international zusammengesetzte Wissenschaftler-Vereinigung namens BioInitiative Working Group vor dem Einsatz drahtloser Technologie in Schulen: “Grundsätzlich handelt es sich um ein nicht reguliertes Experiment an der Gesundheit und dem Lernverhalten von Kindern. Mikrowellen von drahtloser Technologie unterbrechen Denkvorgänge – was könnte für das Lernen schlimmer sein?” Technologie lasse sich auf eine sicherere Art und Weise über drahtgebundene Geräte einsetzen. Kurz: Eine digitale E-Smog-Didaktik sollte sich nicht als pädagogische Selbstverständlichkeit etablieren dürfen.
Kirchliches Wächteramt angesichts der digitalen Revolution
Bildungspolitik muss ganzheitlich verstanden werden, also Leib und Seele mit berücksichtigen. Sie darf nicht zum Türöffner für ökonomische Verwertungsinteressen werden. Medienkompetenz kann gerade nicht darin bestehen, junge Menschen den Medien gezwungenermaßen auszuliefern, sondern es gilt, ihnen Mündigkeit, also auch mögliche Kritik und Distanz ihnen gegenüber, beizubringen. Deshalb plädiert der Wuppertaler Lehrer Arne Ulbricht in seinem Buch “Schule ohne Lehrer?” entschieden dafür, dass die Schulen in erster Linie Alternativen zum dauerhaften Internetkonsum aufzeigen sollten.
Freiheit im Umgang mit digitalen Geräten
Kirchen könnten namentlich über die ihnen verbundene Religionslehrerschaft dazu beitragen, dass die Freiheit im Umgang mit digitalen Geräten gewährleistet bleibt. Dazu gehört auch die negative Freiheit, sie wegen ihrer bedenklichen Eigenschaften nach Möglichkeit zu meiden oder sehr begrenzt zu verwenden. Es ist an der Zeit, dass Theologie und Kirche für den Erhalt der analogen Bildungskultur eintreten.
Der Autor, Prof. Werner Thiede (Erlangen), ist evangelischer Theologe und Publizist. (idea)