„Glaubens- und Gewissensfreiheit“ versprach die DDR einst in ihrer Verfassung. Doch wer als Christ in dem sozialistischen Staat aufwuchs, musste mit Repressalien, Beleidigungen und Benachteiligungen rechnen – und das bereits von Kindheit an. So erging es auch der erzgebirgischen Pfarrerstochter Caritas Führer und ihren Geschwistern. Mit idea-Redakteurin Lydia Schubert sprach sie über ihre Erlebnisse.
Wenn Caritas Führer (62) heute eine Schule betritt, kommen die negativen Erinnerungen wieder hoch. So etwa die an einen Schultag in der Grundschulzeit. Noch immer hat Führer die Worte der Lehrerin im Ohr: „Alle Schüler, die in die Kirche oder Christenlehre gehen, sollen einmal aufstehen.“ Wie freute sie sich, ihren Kameraden jetzt gleich von den schönen Geschichten aus der Bibel erzählen zu können. Stattdessen forderte die Lehrerin die Klasse auf, die Stehenden auszulachen und zu verspotten – und begründete knapp: „Wer an Gott glaubt, ist von gestern, rückständig und dumm.“ Obwohl dieser Tag nun bereits über ein halbes Jahrhundert her ist – die ständige Angst, dieses „Gefühl wie kalte Dusche“ kann Caritas Führer bis heute nicht vergessen. Sie begleitete sie und zahlreiche unangepasste Kinder, die Ähnliches erlebt hatten, durch ihre gesamte Schulzeit.
Pfarrerskind mit fünf Geschwistern
Dabei hatte es Caritas Führer auf den ersten Blick gut getroffen: Als Tochter eines Pfarrers und einer gelernten Kindergärtnerin wuchs sie in einer liebevollen Umgebung im Erzgebirge auf. Dank dem Einsatz seiner Eltern konnte das Mädchen bis zum Beginn seiner Schulzeit daheim aufwachsen. Die Mutter investierte viel in eine gute Erziehung: Jedes der sechs Kinder lernt ein Musikinstrument, es wird mehrstimmig gesungen, gezeichnet, modelliert.
Ohne Halstuch keine Anerkennung
Trotzdem war Caritas nicht abgeschottet von der Welt und bekam bereits in jungen Jahren vieles mit. So etwa, wie ihren älteren Geschwistern vieles verwehrt blieb – sei es ein Studium, die ersehnte Ausbildung oder die Teilnahme an Wettbewerben. „Ich bin bereits in dem Bewusstsein groß geworden, dass ich nicht zu den Pionieren gehen, kein Abitur absolvieren und nicht studieren werde“, kann Führer rückblickend sagen. „Der Verzicht auf diese Dinge war für mich darum kein Trauerschmerz, sondern von vornherein selbstverständlich.“ In ihrer Olbernhauer Schule war sie nicht die Einzige, die kein blaues Halstuch – das Erkennungszeichen der atheistischen Jugendorganisation, der Jungpioniere – trug. „In meiner Klasse waren das etwa sechs bis acht Kinder von insgesamt 32“, so Führer. Doch wer sich gegen das Halstuch entschied, machte sich damit zugleich zum Außenseiter. So etwa beim wöchentlichen Fahnenappell, wenn alle sangen und den Pioniergruß sprachen, Caritas aber schwieg, obwohl dafür ein Verweis drohte. Oder am Ende des Schuljahres, wenn sie trotz Bestnoten von den Lehrern kein Lob und keine Urkunde bekam – ihre Mitschülerin, deren Eltern Funktionäre waren, aber schon. Und auch zu Hause musste Caritas erleben, wie ihre Schwester von der Mathematikolympiade ausgeschlossen wurde oder ihrem Bruder das Abschlussprädikat „ausgezeichnet“ auf „sehr gut“ gesenkt wurde, weil er im Lebenslauf der zehnten Klasse geschrieben hatte, dass er nicht zur Nationalen Volksarmee (NVA) gehen würde.
Aufstand gegen den Sozialismus
Es waren Erfahrungen und Demütigungen wie diese, die sich in dem Mädchen immer weiter aufstauten und sich irgendwann Luft machten. „Es war in der fünften Klasse, in der Pause vor dem Sportunterricht. Da sah ich im Schulgang diese Wandzeitung zur Verfassung hängen“, erinnert sich die 62-Jährige. „Ich wollte eben daran vorbeigehen, da fiel mein Blick auf einen kleinen Zeitungsartikel, der mit Stecknadeln auf das Tuch geheftet war. ‚…jeder nach seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten lernen und arbeiten darf … Glaubens- und Gewissensfreiheit …‘“ Gerade war ihre große Schwester für die Vorbereitungsklasse zum Abitur abgelehnt worden – und das trotz lauter Einsen im Zeugnis. Voller verzweifelter Wut riss die Schülerin den Zeitungsartikel mit der Lüge herunter und trat fest darauf. Andere taten es ihr nach. In diesem Moment war sie sicher, das Richtige zu tun; für die Gerechtigkeit einzutreten. Doch schon kurz danach musste sie vor den Schuldirektor. „Er erklärte, dass diese Tat eines der schlimmsten Ereignisse im Leben dieser Schule bedeutete, weil Schüler im vollen Bewusstsein offenen Widerstand gegen die Macht des Volkes, gegen den Arbeiter- und Bauern-Staat und gegen den Sozialismus geleistet haben“, gibt Führer wider. Erst nach vielen Fragen wurde sie entlassen.
Bewusste Entscheidung zur Konfirmation
Obwohl die Geschichte am Ende glimpflich ausging, sieht Führer auch dieses Ereignis heute als Mutter mit anderen Augen. „Im Gegensatz zu mir haben meine Eltern damals natürlich von den Jugendwerkhöfen gewusst, in die Kinder und Jugendliche eingewiesen wurden, die sich gegen die politischen Vorgaben auflehnten.“ Auch andere Dinge erschlossen sich der Christin erst im Nachhinein. So etwa die Bespitzelungen in Schule und Ausbildung und sogar Kirchengemeinde. Sehr bewusst traf Führer als Jugendliche hingegen ihre Entscheidung zur Konfirmation. „Wer das tat, musste wissen, ob er den Preis bezahlen will, denn von da an lief der Lebensweg völlig anders. Es war ein Weg der Ausgrenzung.“ Für sie stand die atheistische Alternative, die Jugendweihe, jedoch nie zur Debatte. „Ich hatte einfach Vertrauen, dass mein Lebensweg gut werden wird, auch wenn er anders wird“, so die 62-Jährige.
Zeichen setzen mit Kreuzkette und Aufnäher
Nach der 10. Klasse musste sie die Schule verlassen und bestand die Aufnahmeprüfung an der Porzellanmanufaktur Meißen. Auch hier hörten die Gängelungen nicht auf. So forderte ihr Ausbilder sie jeden Tag neu dazu auf: „Morgen kommen Sie ohne die Kreuzkette!“ Doch Führer ließ sich nicht beeindrucken: „Ich habe die natürlich nicht abgemacht: Was an meinem Körper ist, geht niemanden was an! Ich bin Christin, und wer etwas erfahren will, kann gern mit mir sprechen.“ Diese Beharrlichkeit wirkte. Wurden ihr am Anfang noch die schwierigen, schlechter bezahlten Arbeiten zugeteilt, musste der Vorgesetzte bald die künstlerischen Fähigkeiten der jungen Frau erkennen. Als der sächsische Landesjugendpfarrer Harald Bretschneider die Kampagne „Schwerter zu Pflugscharen“ startete, trug Führer den provokanten Aufnäher stolz auf ihrem Parka.
Die Erinnerung wachhalten, Verletzungen aufarbeiten
Heute lebt Führer in Dresden und ist, wie sie sagt, ausgesöhnt mit ihrer Biografie. „Ich hege keinen Groll. Rückblickend kann ich sagen, das war auch mein Weg mit Gott“, so die Christin. Ihre Erinnerungen hielt sie in dem Buch „Die Montagsangst“ fest. Die Dresdnerin musste aber auch erleben, dass nicht alle in ihrem Umfeld mit ihren Erlebnissen abschließen können. So gibt es gute Freunde, die für immer an der Ausgrenzung und dem verbauten Karriereweg zerbrochen sind. „Ich bin überzeugt, wir Betroffenen werden nicht frei von der Macht der Täter, wenn wir es nicht schaffen, diese oft traumatischen Erfahrungen auch therapeutisch und seelsorgerlich aufzuarbeiten. Im zweiten Teil meines Buches berichte ich davon, wie ich diesen Weg zur Vergebung gegangen bin.“
Eine Petition will Wiedergutmachung
Geschichten wie die von Caritas Führer gibt es viele: Laut Angaben des ehemaligen Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Pfarrer Christian Dietrich (Klettbach), wurden etwa 3.000 Schüler als Betroffene rehabilitiert. Eine Entschädigung für die erlittene Ungerechtigkeit und verwehrten Möglichkeiten steht jedoch bis heute aus. „Die Opfergruppe der ‚in der DDR verfolgten Schüler‘, wie es juristisch heißt, ist eine, die sich nicht organisiert und nicht für sich kämpft“, stellt der Theologe immer wieder fest. Mit Hilfe einer Petition möchte er den Betroffenen eine Stimme geben. Das Ziel ist, gemeinsam mit Bundestagsabgeordneten den entsprechenden Referentenentwurf des Justizministeriums zu überarbeiten. „Das Unrecht aus 40 Jahren SED-Diktatur kann nicht vollumfänglich wiedergutgemacht oder entschädigt werden“, weiß der selbst betroffene Dietrich. „Im Einigungsvertrag Art. 17 wurde vereinbart, dass sich aus einer Rehabilitierung der Anspruch auf Ausgleichsleistungen ableitet. Solange dies für die verfolgten Schüler offen ist, ist der Einigungsvertrag nicht umgesetzt.“