Immer mehr Menschen haben den Eindruck, der Umgang miteinander wird rauer. Hassparolen im Internet, Übergriffe auf Rettungskräfte, gewaltsame Proteste – verroht unsere Gesellschaft? Der Benimmexperte und Ehrenvorsitzende des Deutschen Knigge Rates, Rainer Wälde, über eine neue Kultur des Anstands
Die Diskussion über schlechtes Benehmen ist nicht neu: Bereits der römische Dichter Horaz (65–8 v.Chr.) prangerte die ungehobelten Umgangsformen der römischen Gesellschaft an. Im Mittelalter erlebte das Rittertum seine Blütezeit und mit ihm die christlichen Tugenden. Der ideale Ritter zeichnete sich aus durch seine höfische Sitte und die Verehrung vornehmer Damen, der sogenannten Minne. Wie die Helden der Dichtung sollte er tapfer, loyal und großzügig sein. Auch nach dem Niedergang des Rittertums im 15. Jahrhundert übten seine Ideale vom guten Umgang miteinander noch eine starke Anziehungskraft aus.
300 Jahre Etikette
Am französischen Hof wurden Hinweiszettel (franz. „etiquette“) verwendet, um den Lakaien Anordnungen zu geben. Aus dieser Epoche leitet sich auch die sogenannte „Damen-Regel“ ab: Wenn Sie als Mann mit einer Dame essen gehen, erwartet Ihre Begleitung sicherlich, dass Sie ihr im Restaurant beim Platznehmen helfen. Falls nicht, hält die Dame Sie vielleicht für einen Anstandsmuffel und denkt: „Der Kerl hat kein Benehmen!“
Was die Bibel empfiehlt
300 Jahre lang prägte die Etikette unsere europäische Kultur und definierte in der gesellschaftlichen Elite, was sich gehört und was nicht. Diese Verhaltensregeln wurden über die Generationen weitergeben und grenzten auch die sozialen Kreise voneinander ab. Wer sie kannte, war drinnen, wer nicht, blieb draußen. Als Knigge-Experte sehe ich die Etikette ausgesprochen kritisch: zum einen, weil sie Grenzen setzt, statt Brücken zu bauen. Zum anderen habe ich den Eindruck, dass Etikette für etliche Zeitgenossen auch eine Abkürzung ist: „Erklär mir die Regeln, ich will wissen, wie es funktioniert.“
Auch Christen haben Nachholbedarf
Doch gutes Benehmen ist deutlich anspruchsvoller. Etikette ist für mich etwas für Anfänger – auch wenn es noch so elitär klingt. Die wahre Herzensschule lässt sich nicht in einem Crashkurs vermitteln. Damit bin ich bei Adolph Freiherr Knigge (1752–1796). 1788 erschien sein berühmtes Buch „Über den Umgang mit Menschen“, und es hat mit Etikette überhaupt nichts zu tun, auch wenn viele Menschen das bis heute glauben. Knigges Werk ist eine Aufklärungsschrift: Er ermutigt seine Leser, auf die Stimme ihres Herzens zu hören. Gleichzeitig kritisiert auch er dünkelhaftes Verhalten.
Im Frieden mit sich selbst leben
Nach meiner Ansicht hat Höflichkeit sehr viel mit mir selbst und meinem Wertsystem zu tun: „Achte den anderen höher als dich selbst“ – diese Empfehlung steht bereits im Neuen Testament als Anleitung für ein gutes Zusammenleben. Anstand bedeutet für mich persönlich: Ich respektiere mein Gegenüber und zeige ihm das auch. Gleichzeitig nehme ich mich selbst nicht so wichtig. Doch in der aktuellen Ego-Kultur scheinen diese Tugenden mitunter verloren gegangen. Als Leitstern glänzt immer mehr: „Ich, mir, meiner!“ Doch eine gesunde und intakte Gesellschaft kann nach meiner Erfahrung nur durch ein funktionierendes „Wir“ überleben. Wir sind nicht allein auf dieser Welt und brauchen den anderen, um in der Beziehung vom Ich zum Du uns selbst zu definieren.
Für eine respektvolle Streitkultur
Ich bin überzeugt: Nur wenn ich als Führungskraft das vorlebe, was ich mir von meinen Mitarbeitern wünsche, bin ich als Chef glaubwürdig und authentisch. Das ist eine tägliche Herausforderung, die im Kleinen anfängt. Dazu braucht es nach meiner Erfahrung auch Demut: zu den eigenen Fehlern stehen, zugeben, wenn ich selbst Mist gemacht habe. Höflichkeit fängt häufig mit einer Entschuldigung für mein eigenes Versagen an. Der Schriftsteller Axel Hacke hat ein Buch „Über den Anstand“ geschrieben: „Anerkennung, Rücksicht, Wohlwollen, Freundlichkeit, Interesse, Zugewandtsein und jene Solidarität, die Grundlage dessen ist, was wir den menschlichen Anstand nennen könnten.“ All das ist eine Aufgabe jedes Einzelnen und damit eine Sache von uns allen.
Doch Nachholbedarf in Umgangsformen ist nicht nur in Schule und Familie zu beobachten – ich kenne leider auch etliche Beispiele aus christlichen Gemeinden. So erinnere ich mich noch sehr gut an eine sonntägliche Begrüßung vor der Corona-Krise: „Herzlich willkommen – schön, dass Sie da sind …“, behauptete mein Gegenüber und schaute mich dabei gar nicht an, sondern ließ den Blick im Raum umherschweifen. Wenn Wort und Tat – wie in diesem Fall die Körpersprache – auseinanderklaffen, muss ich mich nicht wundern, wenn neue Gäste die Gemeinde nur einmal besuchen.
Ein weiteres Problem scheint mir die Trennung von Kopf und Herz zu sein. Die humanistische Bildung hat unsere Ratio gut trainiert: Mit unserem Verstand beurteilen wir unsere Beobachtungen und Erfahrungen und bilden uns schnell eine Meinung. Die „Vor-Urteile“ anderen Menschen gegenüber sind auch bei den Umgangsformen ein spannendes Thema. Doch die eigentliche Schwäche liegt in der Herzensbildung, von der Knigge spricht. Mein Tipp: Überwinden Sie die Trennung zwischen Kopf und Herz! Vertrauen Sie der Stimme Ihres Herzens, männlich gesprochen: Ihrer Intuition.
Gute Umgangsformen entwickeln sich nicht von allein. Sie erfordern Fingerspitzengefühl und eine gezielte Beobachtung: Wo befinde ich mich? Wer ist mein Gegenüber? Dabei spielt es keine Rolle, ob Sie als Privatmann oder als Geschäftsfrau auftreten. Ob zu Hause oder im Büro – beide Umgebungen fordern Ihr Einfühlungsvermögen. Wer sich daheim „gehen lässt“ und nur auf den eigenen Vorteil achtet, wird auch im Büro Mühe haben, bei den Kollegen und Kunden anzukommen. Wer nur als Mittel zum Zweck freundlich ist, wird von seiner Umwelt schnell durchschaut und entsprechend disqualifiziert. Die erste Voraussetzung für ein harmonisches Verhältnis zur Umwelt ist natürlich, im Frieden mit sich selbst zu leben. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass nur eine harmonische Beziehung zum Schöpfer, zu Gott, auf Dauer weiterhilft. Der bekannte Satz „Liebe deinen Nächsten …“ ist für mich keine verstaubte Weisheit, sondern eine tägliche Herausforderung. Zumal der Achtung meines Nächsten die Selbstannahme vorausgeht „… wie dich selbst“.
Ich ermutige die Seminarteilnehmer, nicht immer und überall nur ihren Vorteil zu sehen und ihre Wünsche durchzusetzen. Unsere Gesellschaft kann auf Dauer nur im gegenseitigen Nehmen und Geben funktionieren. Dazu gehört für mich, dass ich meinem Gegenüber möglichst in allen Lebenslagen Verständnis zeige und ihm meine Hilfsbereitschaft signalisiere. Eine besondere Herausforderung ist sicherlich auch, mit unbequemen Zeitgenossen höflich umzugehen. Das musste ich erst kürzlich in den sozialen Netzwerken wieder trainieren, als ich nach einem aktuellen Blogbeitrag zu den Verschwörungserzählungen von fremden Menschen auf die übelste Weise beschimpft wurde. Ich persönlich schätze unterschiedliche Meinungen und auch den politischen Diskurs. Doch in diesem Fall wurde ich mit extremen Beleidigungen konfrontiert, weil einigen meine persönliche Meinung nicht gefiel. Hier ist innere Gelassenheit gefragt, auch wenn ein medialer Shitstorm tobt. Ich versuche die Schreiber zu verstehen, die durch die Krise scheinbar die Kontrolle über ihr Leben verloren haben und Angst empfinden. Gleichzeitig darf Trauer nicht als Ausrede für respektloses Verhalten missbraucht werden.
Gerade als Christen sollten wir für eine respektvolle Streitkultur einstehen und aktiv Versöhnung praktizieren. Ich nutze deshalb immer wieder auch vertrauliche Nachrichten, um in den sozialen Netzwerken die Beweggründe von Einzelnen zu verstehen. Nach meiner Beobachtung kann das ein erster Schritt zur Versöhnung sein.
Der Autor, Rainer Wälde (Frielendorf bei Kassel), ist Gründer und Ehrenvorsitzender des Deutschen Knigge Rats. Gemeinsam mit seiner Frau Ilona leitet er die Gutshof Akademie als Zentrum für Sinnsucher und Sinnstifter.
(Eine besondere Herausforderung ist sicherlich auch, mit unbequemen Zeitgenossen höflich umzugehen. (Foto: Burkard Vogt/ pixelio.de))