Das Jüdische Museum in Berlin präsentiert eine neue Dauerausstellung zur jüdischen Geschichte und Gegenwart in Deutschland. idea-Reporter Karsten Huhn berichtet. Am Anfang ist die Thora. Eine riesige Thorarolle aus dem Jahr 1903 eröffnet die Ausstellung. Gott ist heilig und sein Wort die Grundlage des Judentums. Deshalb beginnt die neue Dauerausstellung mit dem hebräischen Alphabet, den Zehn Geboten und dem Schma Israel (Höre Israel … Du sollst Gott lieben mit ganzem Herzen … (5. Mose 6,4–9)).
1.000 Jahre Verfolgung
Danach geht es multimedial weiter mit Hör- und Videostationen: Seit dem 4. Jahrhundert leben Juden in Deutschland, zum Beispiel in Worms, wo sich der älteste erhaltene jüdische Friedhof befindet. 1034 wurde dort eine Synagoge errichtet. Die meisten Juden siedelten sich in ihrer Nähe an. Die Straße bekam den Namen Judengasse, der Eingang an der Stadtmauer hieß Judenpforte. Die Juden lebten unter dem Schutz des Kaisers und Bischofs – was jedoch nur trügerische Sicherheit bot. Beim Ersten Kreuzzug im Jahr 1096 wurde die Synagoge zerstört, verwüstet und viele Juden ermordet. 1175 bauten die Juden in Worms erneut eine Synagoge und hofften auf friedlichere Zeiten. Vergeblich: Während des Ausbruchs der Pest 1349 kam es erneut zu Massakern. Am Ostermontag 1615 wurde die Synagoge zerstört, die jüdische Gemeinde vertrieben. Die Konflikte zwischen Christen und Juden ziehen sich – Gott sei es geklagt – wie ein roter Faden durch die deutsch-jüdische Geschichte: Die Ausstellung erinnert an die Gerüchte, die Juden würden Hostien – und damit den Leib Jesu – schänden, hätten Brunnen vergiftet, die Pest ins Land gebracht. Geschichte wiederholt sich: Die Juden werden vertrieben, sie siedeln sich wieder an, sie werden vertrieben – oder gleich ermordet.
Ein Bau, in dem man sich verlieren kann
Das Jüdische Museum Berlin gehört zu den Ausstellungen, die man mehrfach besuchen sollte, so viel gibt es zu entdecken. Mehr als elf Millionen haben es seit der Eröffnung im Jahr 2001 getan – für viele Berlin-Besucher gehört das Museum zum Pflichtprogramm. Allein der Bau von Stararchitekt Daniel Libeskind ist eine Wucht. Der Besucher steigt in den Keller des Gebäudes. Dort kreuzen sich drei Wege: die Achse des Exils, die Achse des Holocausts und die Achse der Kontinuität. Von tief unten steigt man eine lange Treppe bis ins oberste Stockwerk. Der Grundriss des Gebäudes ist verschachtelt, die Wände geneigt, der Boden uneben, es gibt viel nackten Beton, Schächte und Winkel, in denen man sich verlieren kann. Nur hin und wieder öffnen kleine Fenster den Blick auf die Stadt. Es ist ein unheimlicher Bau, der von der Ungewissheit und Gefährdung jüdischer Geschichte kündet. Etwas Leichtigkeit bringt der Klangraum, in dem man Kantorengesang aus dem Synagogengottesdienst und jüdische Poplieder hören kann – oder den sarkastischen Chanson aus dem Jahr 1931 „An allem sind die Juden schuld“. Der Chanson der Kabarettistin Annemarie Hase macht sich über den verbreiteten Antisemitismus lustig: „Ob das Telefon besetzt ist / Ob die Badewanne leckt / Ob dein Einkomm‘n falsch geschätzt ist / Ob die Wurst nach Seife schmeckt / Ob am Sonntag nicht gebacken / Ob der Prinz of Wales schwul / Ob bei Nacht de Möbel knacken / Ob dein Hund ‚n harten Stuhl / An allem sind die Juden schuld / Die Juden sind an allem schuld / Wieso, warum sind sie dran schuld? / Kind, das verstehst du nicht, sie sind dran schuld.“ So liegt von Beginn an eine Schwermut, die Vorahnung des Holocausts, der Völkermord an den Juden, über der Ausstellung.
Selbsttest: Sind Sie der Messias?
Mehr als 1.000 Objekte zeigt die Ausstellung. Neu sind die Mitmachstationen. So kann man einen augenzwinkernden Selbsttest „Sind Sie der Messias?“ machen. Eine der zwölf Fragen: „Gehen Sie am Schabbat ins Internet?“ Nur wer alles richtig beantwortet, bekommt bescheinigt: „Gratulation! Auf Sie hat die Welt gewartet!“ Ein anderer Test fragt: „Bist Du Zionist?“. Spielerisch kann man sich in die Lage eines Zionisten im Jahr 1920 hineinversetzen, der darüber nachdenkt, ob er nach Palästina auswandern soll: Ist Dein Lieblingsfluss Spree oder Jordan? Nennst Du Deinen Sohn David oder Siegfried? Die meisten Juden hatten sich an die deutsche Gesellschaft angepasst. Sie kämpften fürs Vaterland gegen Napoleon und später im 1. Weltkrieg. Sogar Feldrabbiner hatte der Kaiser zugelassen. Dennoch galten Juden vielen Deutschen als Drückeberger – eines von vielen antisemitischen Vorurteilen. Das Kriegsministerium ordnete deshalb eine „Judenzählung“ an – was Juden als Kränkung empfanden.
Die jüdische Ruhmeshalle
Die Ausstellung zeigt den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Erfolg der Juden: „Hofjuden“ stellten sich in den Dienst von Herrscherhäusern, Juden hatten Erfolg als Kaufleute (der jüdische Kaufhaus-Konzern Wertheim war der größte in Europa, bis er von den Nazis enteignet wurde), als Wissenschaftler (Albert Einstein, Paul Ehrlich, Lise Meitner), als Künstler (Franz Kafka, Max Liebermann) oder begründeten gleich neue Zweige des Denkens (Sigmund Freud, Karl Marx). Auch Jesus von Nazareth hat es in die jüdische „Hall of Fame“ (Ruhmeshalle) geschafft. Neid und Ablehnung gab es reichlich. So schrieb der Historiker und Schriftsteller Ernst Moritz Arndt (1769–1860): „Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt … und darum will ich nicht, dass sie auf ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden.“
„Welche eine Hölle ist in Deutschland“
Dann die Machtergreifung der Nationalsozialisten. War die bevorstehende Katastrophe für Juden erkennbar? Die Ausstellung zeigt gegensätzliche jüdische Stimmen aus dem Schlüsseljahr 1933: „Wir Juden hegen den ehrlichen Wunsch und die ehrliche Hoffnung, dass wir in Ruhe auch unser Verhältnis zu den neuen Herren in Deutschland aufrichtig werden gestalten können“, erklärte der Rabbiner Leo Baeck. Baeck wurde 1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt und überlebte; seine vier Schwestern kamen im Ghetto um. Der Hamburger Rechtsanwalt Kurt Fritz Rosenberg schrieb in seinem Tagebuch: „Wir selbst aber fahren auf einem schwankenden Boote in die Zukunft – ungewiss, wie unser Schicksal morgen aussehen wird – ungewiss, ob Warten nicht Versäumnis, ob Auswanderung nicht Übereilung ist.“ 1937 wanderte Rosenberg mit seiner Familie in die USA aus. „Welche eine Hölle ist in Deutschland“, schreibt der Bibliotheksrat Werner Kraft. 1933 wurde er nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums als Jude aus dem Dienst entlassen. Noch im selben Jahr emigrierte er über Stockholm, London und Paris nach Jerusalem. 500.000 Juden lebten 1933 in Deutschland, 1939, zu Kriegsbeginn, waren es noch 230.000 und 1945 noch etwa 17.000. Auf von der Decke hängenden Fahnen zeugen 962 antijüdische Verordnungen von der zunehmenden Drangsal: Berufsverbote, Einschränkungen und Schikanen wurden bürokratisch genau geregelt, vom „Judenboykott“ ab 1. April 1933 bis zur Anordnung „Juden ist das Halten von Brieftauben verboten“ vom 1. November 1938. Die Bürgerrechte wurden aberkannt, Einschränkungen Schikanen, Plünderungen, Gewalt nahmen zu. Viele Dörfer stellten Schilder an den Ortseingang: „Juden betreten diesen Ort auf eigene Gefahr“ – diese Gewaltandrohung galt bald für ganz Deutschland.
Auswanderung in alle Himmelsrichtungen
Glücklich, wer rechtzeitig fliehen kann. Ein interaktiver Globus zeigt die Auswanderungsströme in alle Himmelsrichtungen: Etwa 140.000 deutsche Juden fanden Aufnahme in den USA, etwa 20.000 schafften es nach Shanghai, 30.000 nach Argentinien, 16.000 nach Brasilien, 9.000 nach Australien, 5.500 nach Südafrika. Ab Kriegsbeginn 1939 war die Auswanderung kaum noch möglich. Wer geblieben war, wurde als Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie eingesetzt oder in eines der Vernichtungslager deportiert. Besonders perfide ist der „Heimeinkaufsvertrag“ fürs Ghetto Theresienstadt, mit dem Juden für die Kosten des erzwungenen Aufenthalts selbst aufkommen sollten. So bezahlte das Ehepaar Hermann und Auguste Goldschmidt aus Meiningen 8.500 Reichsmark, im Gegenzug wurde ihm „auf Lebenszeit Heimunterkunft und Verpflegung“, Wäschedienst und medizinische Betreuung versprochen. Tatsächlich starb das Ehepaar wenige Wochen nach seiner Ankunft am 20. September 1942 – vermutlich an Hunger, Kälte und Krankheit.
Ist „Du Jude!“ eine antisemitische Beleidigung?
Benommen geht der Besucher über einen 40 Meter langen weißen Steg in den Raum der Gegenwart und nimmt die letzten Fakten auf: Heute leben etwa 200.000 Juden in Deutschland, der Großteil immigrierte nach 1990 aus Russland. Etwa 20 bis 25% der Deutschen haben eine antisemitische Einstellung, sagt der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Kurzfilme laden zum Diskutieren ein: Ist die Aussage „Du Jude!“ eine antisemitische Beleidigung? Soll man die „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche entfernen – oder mit einer Hinweistafel an ihre Bedeutung erinnern? Und ist man ein Antisemit, wenn man die Beschneidung männlicher Babys ablehnt? In einer Videoinstallation erzählen Juden von ihrem heutigen Leben in Deutschland. Eine Stimme sagt: „Es ist schwierig, eine normale Beziehung mit Menschen zu haben, die sich dir gegenüber schuldig fühlen.“