Wie ein Waisenjunge aus Ruanda zum Botschafter der Hoffnung wird. Von IDEA-Redakteurin Erika Weiss
Alexander Nsengimana ist sieben Jahre alt, als er zum ersten Mal ein Geschenk in den Händen hält. Es ist 1996 in Ruanda. In einem kargen Raum sitzen 250 Waisenkinder – vor jedem eine bunt verpackte Schuhbox. Nsengimana hebt den Deckel seines Kartons und findet einen Schreibblock, Buntstifte, ein kleines Handtuch, eine Zahnbürste – und einen Kamm, den er jahrelang behalten wird. Er erinnert sich: „Zum ersten Mal besaß ich etwas, das nur mir gehört. Niemand konnte es mir wegnehmen.“ Der Heimleiter erklärt den Kindern: „Diese Geschenke kommen von Menschen, die euch zeigen wollen, dass ihr geliebt seid. Jesus liebt euch – und er ist das größte Geschenk.“ Die Worte treffen den kleinen Alexander tief. Monate zuvor hatte er beschlossen, dass es keinen Gott geben könne – nicht nach dem, was er erlebt hatte. Doch in diesem Moment geschieht etwas: „Es war, als wäre ein Samen in meinem Herzen gepflanzt worden“, so der heute 36-Jährige.
Kindheit in Ruanda
Nsengimana wird 1989 in Ruanda geboren. Seine Mutter stirbt an AIDS, da ist er vier. Den Vater lernt er nie kennen. Zusammen mit seiner älteren Schwester und seinem jüngeren Bruder wächst er bei der Großmutter auf. Einer gläubigen Frau, die ihre Enkelkinder sonntags mit in den Gottesdienst nimmt. „Ich habe den Glauben meiner Oma übernommen, aber ohne persönliche Beziehung zu Jesus“, sagt Nsengimana. Das Leben ist nicht einfach. Das Wasser muss er mit seinem Bruder im fünf Kilometer entfernten Brunnen schöpfen. Die Großmutter macht für ihre beiden Enkelsöhne ein Spiel daraus: Sie sollen mit dem Wasser bis zu einer bestimmten Uhrzeit wieder zurück sein. Und Nsengimana rennt. Daraus entwickelt sich eine Leidenschaft, die ihm später das Leben retten wird.
Ums Leben rennen
Im April 1994 brechen in Ruanda Unruhen aus, ein Völkermord beginnt. Angehörige der Hutu-Mehrheit töten fast eine Millionen Menschen der Tutsi-Minderheit. Die Gewalt trifft auch die Tutsi-Familie Nsengimana. Eines Nachmittags stürmt ein Hutu-Milizionär in ihr Haus. Nsengimana und seine Geschwister müssen mit ansehen, wie er ihre Großmutter ermordet. Wenige Tage später wird einer ihrer Onkel erschossen – die Kinder beobachten die Tat aus einem Versteck. Die Bilder prägen sich tief in Nsengimanas Seele ein. „Als sie getötet wurden, starb auch mein Glaube an Gott.“ Gemeinsam mit einem anderen Onkel fliehen die Kinder in Richtung Hauptstadt, wo ihre Tante lebt. Sie rennen um ihr Leben – über Hügel, durch Wälder und verstecken sich in Gräben. Doch auch bei der Tante gibt es keine Sicherheit. Wieder sind sie auf der Flucht. Überall begleiten sie die Explosionen von Granaten und Bomben. Fast zwei Monate sind sie unterwegs. Mehrmals entkommen sie nur knapp dem Tod. Einmal wird Nsengimana von einem Hutu verfolgt. Er stürzt und spürt, wie eine Gewehrkugel seine Haare streift. Warum kommt er davon, während viele andere sterben? Diese Frage lässt ihn nicht los.
Ein Licht in der Dunkelheit
Im Juli ebben die Unruhen ab. Aber dann erkranken die Tante und der Onkel, Nsengimana kommt mit seinem Bruder im Frühjahr 1995 in ein Waisenhaus. Oft liegt Nsengimana nachts wach, das Weinen der anderen Kinder durchdringt die Stille. Bis eines Tages das Geschenk kommt, das alles verändert: die Schuhbox – ein Zeichen von Liebe. Weil Nsengimana und sein Bruder talentierte Sänger sind, dürfen sie in einem christlichen Chor im Nachbarland Uganda mitsingen. Zwischen den Proben gibt es biblische Geschichten. „Ob Gott mich liebt?“, fragt sich der damals Neunjährige und sucht in der Bibel nach Antworten. Dabei stößt er auf Jeremia 29,11–13: „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet.“ Die Worte berühren ihn. Plötzlich erkennt er in seinem Leben die vielen Wunder, die Gott gewirkt hat. „So oft haben die Hutu versucht, mich auszulöschen. Aber Gott hat mich vor dem Tod bewahrt!“ Nsengimana begreift, dass Gott ihn liebt und nimmt Jesus als seinen Herrn und Retter an.
Den Mördern vergeben
1997 touren Nsengimana und sein Bruder mit dem Chor durch die USA, Kanada und England. Begleitet werden sie von einer Nonne. Ihr erzählt Nsengimana von seinen traumatischen Kindheitserlebnissen. Eines Tages fragt sie ihn: „Was würdest du tun, wenn du die Person treffen würdest, die dir den größten Schmerz zugefügt hat?“ Nsengimana denkt an die Mörder seiner Großmutter und seines Onkels und sagt: „Ich würde sie töten!“ Seine Reaktion erschreckt ihn. „Ich merkte, dass ich in Ketten der Bitterkeit und Wut lebte.“ Von da an beginnt er täglich zu beten: „Gott, hilf mir, heil zu werden und den Mördern vergeben zu können.“
Neues Zuhause
Während der Tour durch die USA lernen Nsengimana und sein Bruder eine christliche Familie in Minnesota kennen. Drei Jahre später meldet sich Nsengimana bei der Familie per E-Mail. Der Kontakt wird intensiver – und die beiden Brüder werden schließlich von der amerikanischen Familie adoptiert. In Minnesota finden sie ihr neues Zuhause und Nsengimana besucht die High School. Eines Tages finden dort Gruppenarbeiten statt – jede Gruppe soll eine Organisation präsentieren. Eine der vorgestellten Organisationen ist „Samaritan’s Purse“ mit der Aktion „Operation Christmas Child“ (Weihnachten im Schuhkarton). Jedes Jahr zur Weihnachtszeit bringt sie Millionen von Kindern in Not ein Geschenk in Form von Schuhkartons. Als Nsengimana das grün-rote Logo sieht, erkennt er sofort: So eine Box hatte er damals im Waisenhaus bekommen. Aufgeregt erzählt er seinen Mitschülern davon, gemeinsam beteiligen sie sich an der Aktion und packen so viele Schuhkartons wie möglich.
Vergebung leben
Nach der High School besucht Nsengimana eine Bibelschule. Dann folgt ein Praktikum bei Samaritan’s Purse in North Carolina. Im selben Jahr kehrt Nsengimana für einige Tage nach Ruanda zurück – und wird selbst ein Botschafter der Hoffnung, der in seinem ehemaligen Kinderheim Schuhboxen verteilt. Dort fasst er einen Entschluss: Er will den Mann im Gefängnis aufsuchen, der einst seinen Onkel ermordete. Nsengimana will das Gebet, das er seit zwölf Jahren betet, in die Tat umsetzen. Er will vergeben. Im Besucherraum des Gefängnisses trifft er auf einen schmächtigen Gefangenen. Nsengimana stellt sich vor und sagt leise: „Bitte erzähle mir, wie mein Onkel getötet wurde.“ Der Gefangene beginnt seine Geschichte. Nsengimana hört ruhig zu, wenn auch mit stockendem Atem. Er hat Tränen in den Augen, als er sagt: „Ich bin nicht hier, um dich anzuklagen. Ich vergebe dir – damit du Frieden findest. Und ich wünsche mir, dass du Buße tust, denn ich glaube, dass Gott sich nach dir sehnt, trotz allem, was du getan hast.“ Nsengimana kniet sich neben den Mörder seines Onkels, legt eine Hand auf dessen Rücken und betet: „Vater, bitte segne ihn, sei mit Deinem Geist bei ihm, damit er deinen Frieden findet.“ Stille. Dann bricht es aus dem Gefangenen heraus. Unter Tränen erzählt er von einer weiteren Familie, die er nahezu komplett getötet hat. „Ich weiß nicht, was über uns gekommen ist“, sagt er. „Wir haben einfach alle getötet. Bitte verzeiht uns.“ Als Nsengimana das Gefängnis verlässt, sind seine Schritte leicht. „Ich hatte das Gefühl, dass mir eine große Last von der Brust genommen wurde“, sagt er. Er hat dem Mörder vergeben. Aber das bedeutet nicht, das Geschehene zu verdrängen. Im Gegenteil: „Vergeben heißt, im Erinnern Heilung und Frieden zu finden. Im Rückblick erkennt man, was Gott getan hat.“ Doch Vergebung sei kein einmaliger Akt, sondern ein Prozess. „Am Ende wirst du den Frieden haben, den nur Christus geben kann“, sagt Nsengimana.
