An Pfingsten, der Geburtsstunde der Gemeinde Jesu, fuhr der Heilige Geist herab auf die Nachfolger Jesu. Jeder Christ hat von Gott auch sogenannte Geistesgaben geschenkt bekommen, mit denen er dem Reich Gottes dienen soll. Wie diese Gnadengaben die Gemeinde beleben, erklärt Bischof i. R. Hans-Jürgen Abromeit.
Pfingsten ist das unterschätzte Christusfest. Wir feiern Pfingsten, weil die gleiche Kraft, mit der Gott Jesus auferweckt hat, nun viele Menschen ergreift – und Gott so ein Kraftfeld seines Geistes in dieser Welt aufbaut. Gott nutzt dazu die Menschen, die an ihn glauben. Menschen, auf die der Geist ausgegossen wird, werden zu Gliedern des Kraftfeldes Gottes. Wenn Gott an Weihnachten in diese Welt kommt und Ostern den Anfang einer neuen Welt setzt, dann bringt Pfingsten die Kraft dieser neuen Welt Gottes zu vielen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Nationen. In der Geschichte Gottes mit seinen Menschen ist darum Pfingsten so wichtig wie Weihnachten und Ostern. Mit Pfingsten gibt Gott uns Anteil an sich selbst. Er gibt uns Gnadengaben, nach dem griechischen Wort auch Charismen genannt.
In den Gnadengaben kommt Gottes verwandelnde Kraft bei uns Menschen an. Aber, so fragt sich mancher, der schon lange Christ ist und sich treu zur Gemeinde hält, habe ich denn auch solche Gnadengaben bekommen? Bekommt sie jeder Christ? Ich spüre nicht viel von Gottes verändernder Kraft. Kann ich etwas tun, um Gottes verwandelnde Kraft zu erfahren? Wenn wir im Neuen Testament nachfragen, dann hilft uns die Bibel zu vier Schritten, die Gnadengaben Gottes zu entdecken.
Schritt 1: Entdecke den Geist Gottes in dir!
(vergleiche 1. Kor. 12,1–3)
Die Frage der Gnadengaben spielte in der korinthischen Gemeinde eine besondere Rolle. Die Korinther waren fasziniert von herausragenden Begabungen: Zungenrede, Kraftwirkungen, Heilungsgabe. Waren diejenigen, die so etwas konnten, nicht in besonderer Weise mit dem Geist Gottes begabt? Sollten sich nicht alle Christen bemühen, solche außerordentlichen Gaben zu haben? Waren vielleicht diejenigen, die diese Gaben nicht hatten, gar keine richtigen Christen?
Dagegen stellt Paulus eine erstaunliche Aussage: Jeder Christ hat den Geist Gottes. Alle, die Jesus ihren Herrn nennen, sind geistbegabt. Nicht nur diejenigen, die auffallende Begabungen haben, sind mit Gottes Geist beschenkt, sondern jeder, der sich in die Nachfolge Jesu gestellt hat. Wenn wir aber den Geist Gottes haben, dann kommt es darauf an, ihn und seine Wirkungen in uns, die Gaben, die er uns geschenkt hat, zu entdecken. Entdecke den Geist Gottes in dir heißt dann: Entdecke die Gabe, die Gott dir geschenkt hat!
Schritt 2: Entdecke die leibliche Anwesenheit Christi in der Gemeinde – Jeder ist begabt!
(vergleiche: 1. Kor. 12,4–11; Eph. 4,7)
Aus den Menschen, die sich in der Kirche oder Gemeinde (das ist im Neuen Testament dasselbe Wort) versammeln, entsteht durch das Wirken von Gottes gutem Geist eine Gemeinschaft neuer Qualität. Gott ist in Jesus Christus Leib geworden. Dieser Jesus Christus ist geistig, im Geist Gottes auch heute unter uns anwesend und schenkt uns Anteil an der Wirklichkeit Gottes. Das Leben Jesu Christi unter uns und in dieser Welt ist kein Gedanke, sondern ein Körper – eine Körperschaft.
Das Neue Testament zeichnet eine Gemeinschaft, die anders ist als die Gesellungsformen, die wir sonst kennen. Es sind die unterschiedlichsten Menschen, die sich hier zusammenfinden. Die Gemeinschaft ist gewirkt von dem einen Geist Gottes, der Anteil gibt an Jesus Christus und der jeder und jedem das Seine zuteilt. Paulus bezieht die Vielfalt der Gemeinde zurück auf den Dreieinigen Gott. Die vielgestaltige Einheit und die versöhnte Verschiedenheit in der Gemeinde haben ihren Ursprung im Dreieinigen Gott.
Der Trinität von Geist, dem Herrn Jesus Christus und dem Schöpfer Gott entspricht die Dreiheit von Gaben, Aufgaben und Begabungen. Das die Glaubensgemeinschaft bestimmende Prinzip ist der Geist Christi. Vor Gott sind wir gleich, zugleich sind wir aber sehr verschieden nach den Gaben, die wir empfangen haben. In der Gemeinde Jesu Christi gilt nicht: Die einen sind die Autoritäten und geben die Anweisungen, und die anderen führen aus. Nicht: Die einen lassen sich bedienen, und die anderen dienen, sondern in diesem Leib trägt jeder an seiner Stelle seine eigene Verantwortung für das Ganze.
Darüber hinaus gilt: Die Gabe, die jede und jeder bekommen hat, ist sein oder ihr „Anteil an der Herrschaft und der Herrlichkeit Christi“, so der evangelisch-lutherische Theologe Ernst Käsemann (1906–1998). Wenn wir unsere Gaben von Gott bekommen haben und dies unser Anteil am Herrn ist, dann müssen wir einen spezifischen Dienst entsprechend unserer besonderen Berufung ausführen, sonst nehmen wir unseren Anteil am Herrn nicht wahr. Der Dienst jedes einzelnen Gliedes ist für das Ganze wichtig. Fällt ein Glied aus, ist das Ganze gestört.
Schritt 3: Mache dir die Stärken deiner Gemeinde klar. Es gibt viele noch nicht genutzte Gaben!
(vergleiche 1. Kor. 12,12–27)
Es gibt verschiedene Aufgaben, aber es ist ein Herr. Dabei mögen uns manche Aufgaben nicht so wichtig erscheinen. Die Mitarbeit im Kirchengemeinderat halten wir für wichtig, das Halten von Gottesdiensten auch. Aber das Reinemachen der Kirche, das Reparieren der verstopften Toilette, das Verteilen der Gemeindebriefe, der Besuchsdienst ist doch zweitrangig. Überhaupt, was braucht man dafür für Gaben? Das kann doch jeder! Paulus sagt: Täuscht euch nicht! Der eine Dienst ist so wichtig wie der andere.
Das Bild des Leibes ist beredt: Vielleicht scheint uns der Darmtrakt nicht so wichtig wie Kopf oder Hand. Aber unsere eigene Erfahrung lehrt uns etwas Besseres. Wir wissen, ein Unwohlsein durch Durchfall oder Verstopfung kann die ganze Leistungsfähigkeit rauben. Eine Entzündung im kleinen Zeh kann zu einer Blutvergiftung führen, die zum Tode führt. Es gibt keine wichtigen und unwichtigen Glieder am Leib. Jedes ist für das Ganze wichtig.
Wenn wir schöne Gottesdienste feiern, aber keiner lädt dazu ein, dann wird Gott nur von sehr wenigen gelobt, und viele, viele erfahren die gute Botschaft nicht. Wenn ich einladen kann (durch Besuchsdienst, Gemeindebriefverteilung, Gestaltung der Website etc.), aber das nicht mache, dann schädige ich den Leib Christi. Deswegen ist Gnadengabe immer auch Aufgabe. Eine nicht wahrgenommene Gabe ist wie ein nicht mehr genutztes Körperteil. Es verliert seine Funktionen, wird am Ende nicht mehr durchblutet und mit Sauerstoff versorgt. Es verfault und infiziert den ganzen Körper. Dann ist der Körper krank. Gnade ist nie etwas, auf dem ich mich ausruhen kann, sondern immer etwas, was aktiviert. Deswegen ist Dienst Gnade. Ein Mensch ohne Aufgaben verkümmert. Jeder Mensch muss die Erfahrung machen: Ich werde gebraucht!
Die Frage nach den Gnadengaben verdichtet sich zu einer Leitfrage: Welche Aufgaben hält unser Herr für uns bereit? Wie können wir die Erfahrung machen, zu nehmen und zu geben, die anderen zu brauchen und selbst gebraucht zu werden? Gelingt uns das, deutlich zu machen, die Kirche braucht dich, weil Gott dich braucht, dann könnte unsere mit sich selbst beschäftigte Kirche wieder „gottvoll und erfahrungsstark“ (so der katholische Theologe Paul Michael Zulehner) werden.
Gott beruft Menschen in seine Kirche, um in diese Welt hinein zu wirken. Deswegen sollen wir mit unseren Gemeinden auch nicht bei uns bleiben, sondern zu denen hinausgehen, die bisher nicht zur Gemeinde kommen. Mit dieser Grundbewegung ist alle Selbstgenügsamkeit durchstoßen. Die Kirche ist dafür da, um das Evangelium in der Öffentlichkeit und über ihre eigenen Grenzen hinaus zu verkündigen. Das ist ihre Hauptaufgabe. Welche anderen Aufgaben die Kirche angreifen kann und soll, wird sich daran entscheiden, welche Begabungen in ihr vorhanden sind. Die zum Dienst fähige Kirche ist die Gemeindekirche. In einer konkreten Gemeinde wird geglaubt, geliebt und gehofft. Weil Gott seinen Geist einem jeden Glied seiner Gemeinde schenkt, deswegen lebt die Kirche. Indem der eine Geist Gottes jeden Christen begabt, wird die Gemeinde insgesamt fähig, die ihr übertragenen Dienste oder Aufgaben zu tun. Die Kirche lebt von der Einheit in der Vielfalt. Mit den Gaben oder Charismen, die der Geist schenkt, hat die Gemeinde die notwendigen Begabungen, um ihre Aufgaben zu erledigen.
Schritt 4: Überlege dir, wie die vielen Begabungen den einen Gott groß machen können.
(Vergleiche 1. Kor. 12,28–31; Röm. 12,3–8; Eph. 4,11–16; 1. Petr. 7–11)
Es gibt in jeder Gemeinde sehr verschiedene Begabungen: Die eine, die aufgrund ihrer Lebenserfahrung raten kann, den andern, der elementar den Glauben aufschließen kann. Der Dritte versprüht Zutrauen, ein anderer hat die Gabe, körperlich zu helfen, die Nächste kann so beten, dass Wunder geschehen, ein anderer hat einen Durchblick durch die unüberschaubare Gegenwart und kann Orientierung geben. Ein anderer hilft, die religiösen Angebote und die Lebenshilfeversprechungen zu unterscheiden zwischen lebensförderlich und lebensabträglich. Schließlich gibt es in der Gemeinde auch solche, die einfach die Gabe haben, sich ekstatisch zu freuen, und dann gibt es auch die anderen, die diese wieder auf den Boden herunterholen. Die Aufzählungen von Geistesgaben, die wir im Neuen Testament finden, sind nicht erschöpfend. Es gibt noch viel mehr Gaben. Zu diesen gehören die Fähigkeiten, Türen zu öffnen und schnell zu Menschen Kontakt zu schließen, zuhören zu können, genauso wie die, einen Blick für die jeweilige Situation zu haben.
Warum fehlen aber heute offensichtlich weithin die Menschen mit den Gaben und Begabungen, die unsere Gemeinde aufleben lassen? Die Antwort auf diese Frage finden wir bei Dietrich Bonhoeffer (1906–1945): „Eine Gemeinschaft, die es zulässt, dass ungenutzte Glieder da sind, wird an diesen zugrunde gehen.“ (Gemeinsames Leben, 1976, 80). Das Problem der großen, unüberschaubaren Gemeinden in der Volkskirche sind die über Jahrhunderte ungenutzten Gaben ihrer Glieder. Aber auch in vielen Freikirchen gibt es nicht wenige, die nur konsumieren. Die vom Geist begabte Gemeinde, die charismatische Gemeinde, baut sich dagegen selbst auf. Ungenutzte Glieder haben eine Gefahr. Sie werden starr und unbeweglich, schließlich können sie sogar absterben.
Die Kirche, die veranstaltet wird, ist das Gegenteil der Gemeindekirche. Paulus geht noch einen Schritt weiter. Er nennt die Begabung jedes Einzelnen durch den Geist Gottes eine Offenbarung. Es ist der Anteil am Herrn und der Einblick in seinen Willen, wenn Gott Menschen mit einer bestimmten Fähigkeit begabt. Es gibt in unseren Gemeinden keinen unbegabten Menschen. Wir müssen nur entdecken, wozu die Einzelnen begabt sind, was sie zum Wohle der Gemeinschaft einbringen können. Der Geist will sich jedermann offenbaren, und zwar so, dass alle dadurch einen gegenseitigen Vorteil haben.
Gabeneinsatz belebt den Leib Christi
Deswegen stellt sich uns die Frage auch persönlich: Haben Sie sich schon einmal überlegt, mit welcher Gabe Sie Ihrer Kirche, Ihrer Gemeinde dienen könnten? Es wird viel, vielleicht alles für die Zukunft der Kirche in unserer Kultur davon abhängen, ob wir beginnen, Gaben zu entdecken. Dadurch dass jeder und jede den ihm oder ihr verliehenen Geist nutzt, beginnt der ganze Leib Christi wieder zu leben. Eine charismatische Gemeinde ist eine Gemeinde, in der jede und jeder eine Aufgabe zum Wohl aller übernimmt.